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„Wir brauchen keine Hunde mehr“? Unsinn!

Hund beißt Kind, Hund verletzt Polizist, Hund reißt Reh, liest man in der Zeitung und den sozialen Medien. Der Ruf der treuen Begleiter, die seit Zehntausenden Jahren an der Seite der Menschen leben, ist in Gefahr. „Zu Unrecht“, sagt Dr. Jochen Stadler.

Der Biologe schreibt als Wissenschaftsjournalist unter anderem für das Wissenschaftsmagazin der Wiener Stadtzeitung Falter. „Menschen haben verlernt, mit Tieren umzugehen, ignorieren ihre Signale und glauben, sie mit Dominanzgebärden beherrschen zu müssen.“ Doch Verhaltensforscher wissen so viel wie nie zuvor darüber, wie Hunde ticken, wie man ihnen auf positive Art Dinge beibringen und lästige bis gefährliche Marotten abgewöhnen kann. Dr. Stadler weiß, wovon er spricht, denn er arbeitet bei der österreichischen Hundewasserrettung mit Hunden unterschiedlichster Rassen und bildet seine Flat-Coated-Retriever-Hündin Kleo, den „verrücktesten Hund, den er kennt“ zum Rettungshund aus. Was Hunde heute brauchen, hat er uns verraten. Ein Interview, das Haltung zeigt.

Sie haben Ihre Erfahrungen in dem Buch „Guter Hund, Böser Hund“ zusammengefasst. Wie entstand die Idee zu dem Buch. Gab es einen konkreten Anlass?

Dr. Jochen Stadler: Es gab einen traurigen Anlass. Im Spätsommer des vorigen Jahres wurde auf einer Straße ein Kleinkind von einem Rottweiler gebissen. Die Medien urteilten schnell: „Hund beißt Kind auf offener Straße!“, hieß es. Der Tenor ging in die Richtung: „Die braucht keiner! Die gehören verboten!“ Oft mit einem pseudointellektuellen Touch.

Ich habe mit zwei mir persönlich bekannten Wissenschaftlern diskutiert und habe dabei das Gefühl bekommen, es wird komplett emotional diskutiert, ohne wissenschaftliche Grundlagen, ohne Fachwissen. Dann habe ich für die Wochenzeitschrift Profil einen Artikel über die wissenschaftlichen Hintergründe gebracht und der ist gut angekommen. Ich wurde von einer Verlegerin kontaktiert, ob ich mir vorstellen könne, darüber ein Buch zu schreiben und habe diese Gelegenheit gerne wahrgenommen.

Wie sind Sie vorgegangen? Wie haben Sie sich dem Thema genähert?

Dr. Jochen Stadler: Ich habe zunächst einmal Experten befragt und alle wissenschaftliche Literatur durchforstet. Es war eine große Recherche nötig, um größer angelegte wissenschaftliche Studien zu finden. Erschrecken für mich war, dass die meisten Studien über Beißstatistiken echter wissenschaftlicher Schrott sind und kaum Aussagekraft haben. Das muss man so deutlich sagen.

2010 ist eine Liste von gefährlichen Hunden erstellt worden. Unter anderem saß Frau Prof. Sommerfeld-Stur in dem Fachkomitee. Sie hat mir gesagt, dass keiner dieser Experten diese Liste sinnvoll fand. Alle Beteiligten haben gesagt, alle wissenschaftlichen Daten sprechen dagegen – und sie wurden komplett ignoriert. Diese Sanktionen gegen die Hunde auf der Liste sind seit dem Unfall mit dem Rottweiler verschärft worden.

Wie hätten Sie den Vorfall mit dem Rottweiler gedeutet?

Dr. Jochen Stadler: Ich war nicht dabei, aber man kann sich die Umstände der Tat näher anschauen. Die Person, die den Rottweiler geführt hat, war betrunken. Laut Polizei hatte sie 1,44 Promille Alkohol im Blut. Die Frau war Mitarbeiterin einer Security Firma und sagte, sie hätte zuvor mit einem Bekannten Prosecco getrunken. Sie wollte ihn dann zur Bushaltestelle bringen, betrunken wie sie war, und nahm den Hund wohl zum Gassi gehen mit. Ihnen kam ein Großelternpaar mit dem 17 Monate alten Enkel entgegen. Sie spielten „Engelchen flieg“. Sie hatten also das Kind zwischen sich und ließen es immer wieder hochfliegen. Der Hund riss sich los und packte das Kleinkind am Kopf.

Die wahrscheinlichste Deutung ist, dass dem Hund beigebracht wurde, auf bewegte Ziele hinzufahren. Vielleicht sogar ohne Aggression. Dazu kommt, dass sein betreuender Mensch nicht wirklich da war. Der Hund muss widersprüchliche Signale empfangen haben – war wahrscheinlich verwirrt. Vielleicht sah er seine Halterin auch in diesem Moment als schwach an und wollte sie beschützen. Das ändert natürlich nichts an dem wirklich schrecklichen Vorfall, der für das Kind tödlich endet. Aber es wirft einen Blick auf den daran beteiligten Menschen, den Hundeführer.

Im Pferdesport gibt es einen Spruch. „Der Reiter formt das Pferd.“ Könnte man auch sagen: „Der Halter formt den Hund?“

Dr. Jochen Stadler: Das würde ich zu 100 Prozent unterschreiben. Der Halter kann aus der gutmütigsten Rasse der Welt, zum Beispiel einem Golden Retriever, einen angreifenden Hund machen. Genau so gut sind viele Rottweiler auch kinderliebe Familienhunde. Wenn es allerdings Menschen aus der Halbwelt gibt, die dem Hund eine Eisenkette umlegen und mit ihm unverantwortliche Übungen machen, dann braucht man sich nicht wundern.

Vertreter der Dominanztheorie arbeiten gezielt mit Furcht. Der Hund unterwirft sich dann zwar, aber aus Angst. Dabei weiß man z.B. aus der Polizeihundeausbildung, dass man so einen unterwürfigen Hund erzieht, einen Hund, der nicht denken kann. Was denken Sie darüber?

Dr. Jochen Stadler: Angst verhindert wirklichen Lernerfolg. Angstaggression ist wahrscheinlich der häufigste Grund, aus dem ein Hund zupackt. Dieses ganze Getue, man muss dem Hund zeigen, dass man der Herr im Haus ist… Es ist doch so: Ich öffne die Futterdose, ich nehme ihn an die Leine, fahre mit ihm wann ich will, wohin ich will – der Hund kommt doch gar nicht auf die Idee, er könne dominant sein.

Viele Trainer, deren Methoden auf Einschüchterung basieren, schreiben, dass der Hund einen ruhigen dominanten Führer braucht. Dagegen ist auch gar nichts zu sagen. Aber auf den Videos schaut das eben anders aus. Nach Unterdrückung und Angst. Ruhe ist jedoch ein sehr wichtiger Schlüssel. Das ist auch meine eigene Erfahrung mit dem Flat Coated Retriever – eh eine ausgeflippte Rasse.

Meine Kleo ist bei der Wesensprüfung durchgeflogen, weil sie nicht schussfest war. So einen ausgeflippten Hund hab ich noch nie gesehen. Und ich bilde sie zum Rettungshund aus. Meiner Erfahrung nach hilft es schon viel, erst einmal einfach ruhig dazustehen. Dann kann der Hund auch denken.

Welche Signale vom Hund werden am häufigsten überhört?

Dr. Jochen Stadler: Angst wird oft nicht gesehen. Wenn ein Hund knurrt, dann oft aus Angst und nicht aus Herrschsucht, weil die Hunde die Angst oft überspielen. Sie kaspern herum, manche werden aggressiv, andere wild. Hunde zeigen Abwehrverhalten, wenn sie bedrängt werden. Oft gerade auf den Fotos, die viele Menschen so lieben. Wenn der Mensch mit dem Hund kuschelt, schauen sie sich einmal nicht den lächelnden Menschen an, sondern die Mimik der Hunde. Die drehen sich ganz oft angewidert weg, wenn Kinder sie lieb haben und kuscheln.

Auch Hunde brauchen eine Individualdistanz – viele Hunde kuscheln gerne, aber halt auch nicht immer. Diese Signale werden umgedeutet. Und dann passiert Folgendes: Das Kind spielt mit dem Hund, wuschelt durch sein Fell, zieht an den Ohren, denn der tut nichts. Aber der Hund will das nicht und zeigt es auch deutlich. Irgendwann ist er dann am Ende seines Vokabulars und knurrt. Das wird ihm verboten, denn der Hund darf nicht knurren. Und dann schnappt er zu – erst einmal ohne Verletzungen, aus der Not heraus. Eine Warnung sollte es sein. Und dann heißt es: der Hund hat auf einmal komplett ohne Vorwarnung gebissen.

Menschen sind in erster Linie Primaten und Hunde Caniden. Deren Körpersprache verläuft ja vollkommen unterschiedlich. Sehen Sie hier viele Anlässe für Probleme?

Dr. Jochen Stadler: Ja. Alleine bei der Begrüßung ist es so, dass Menschen sich umarmen und frontal aufeinander zugehen. Wir sehen uns in die Augen, geben uns die Hand. Hunde blicken dezent auf die Seite, gehen einen kleinen Bogen und lecken einander zur Begrüßung das Maul. Wir wissen das, machen es aber trotzdem nach Primatenart. Jemanden zur Begrüßung umarmen zu wollen, ist ein Instinkt – wir machen es einfach. Und Hunde springen uns zur Begrüßung aus den gleichen Gründen an. Weil sie uns das Maul lecken wollen. Es ist ein Instinkt, sie machen es einfach.

Wie begrüße ich einen fremden Hund?

Dr. Jochen Stadler: Ich würde vorschlagen, einfach stehen zu bleiben und zu warten, wie der Hund sich verhält. Wenn ich auf einen Hund zugehen will, dann seitlich und ich blicke ihm nicht in die Augen. Prinzipiell halte ich es für eine gute Idee, den Hund den ersten Schritt machen zu lassen.

Wann sollte ich achtsam werden? Gibt es Anzeichen im Vorfeld, die mir sagen, dass mein Hund gefährlich werden könnte?

Dr. Jochen Stadler: Es gibt körpersprachliche Zeichen: Er steht starr dar, kratzt sich, schleckt sich übers Maul. Da merke ich, dass meinem Hund was unangenehm ist – er hat Angst. Ich kann ihm Zeit geben, sich zu beruhigen, z.B. beim Tierarzt – oder ich geh aus der Situation raus. Und was man auch nicht vergessen sollte, ist das Temperament des Hundes.

Stürmische aber freundliche Hunde können auch gefährlich sein – durchs Temperament. Ich habe eine 95-jährige Nachbarin und einen niedrigen Zaun. Kleo springt über den Zaun und darf jetzt nicht mehr alleine in den Garten, bis der Zaun höher ist.

Im Pferdebereich suchen die „neuen Reiter“ oft Verlasspferde. Also Pferde, auf denen Sie ausreiten können, ohne die Mühen der Dressur zu haben. Fertig ausgebildete Pferde sind deshalb in dieser Branche gängig. Wäre dies eine Zukunftsmöglichkeit? Dass man seinen Hund zur Ausbildung in fremde Hände gibt?

Dr. Jochen Stadler: Natürlich wäre das eine Hilfe. Es gibt sicher Leute, die sich einen Hund halten aber vielleicht nicht die Zeit, das Wissen und die Geduld haben, ihn Sachen zu lehren. Warum soll man die nicht einem guten Hundetrainer geben? Trotzdem ist es beim Hund anders als beim Pferd. Ein Hund braucht eine Bezugsperson und er muss mehr beim Besitzer sein. Und auch dieser muss lernen, wie er mit dem Hund umgeht. Aber in der Zusammenarbeit mit einem guten Hundetrainer ist das ja durchaus möglich.

Mit welchen Methoden lernt der Hund denn am besten?

Dr. Jochen Stadler: Mit positiver Verstärkung. Nehmen wir zum Beispiel die Leinenführigkeit: Ein bekannter deutscher Hundetrainer empfahl folgendes: er hängt dem Hund eine lange Leine um und geht auf dem Feld hin und her. Der Hund geht hinterher, um den Ruck zu vermeiden. Ich kann aber auch den Hund positiv verstärken mit dem Clicker, Spiel oder Leckerli, wenn er neben mir her geht. Wenn man einen Trainingsplan und ein Ziel hat, funktioniert diese Methode viel leichter, viel besser und das macht dem Hund auch mehr Spaß.

Was bewegt Sie an all dem persönlich?

Dr. Jochen Stadler: Zwei Sachen. Erst einmal, dass die Diskussion gegen Listenhunde und Hunde generell mit viel Emotion und wenig Wissen geführt wird. Hochintelligente Leute äußern auf einmal primitive, wissenschaftlich unhaltbare Meinungen. Und zum Zweiten dass im Training mit Hunden oft mit veraltetem Wissen hantiert wird. Hier meine ich, das Gerede über Dominanz, die in Gewalt mündet, die der Beziehung mit dem Hund schaden. Und die nicht zielführend sind.

Und was war das Überraschendste, was Sie dabei herausgefunden haben?

Dr. Jochen Stadler: Trotz allem überraschend war, dass es so extrem geringe Unterschiede zwischen den Rassen in den vererbten Eigenschaften gibt. Von Aggression über Spielfreude gibt es große Unterschiede zwischen den Individuen, aber nicht so deutlich, wie ich selbst geglaubt habe, zwischen den Rassen.

So wird die Angst zum Beispiel zu 22% vererbt, Aggression nur zu 14 %. Der Rest ist die Umwelt: Die Menschen, die Lebensumstände, Erfahrungen im Mutterleib, das alles spielt eine wesentlich größere Rolle als die Vererbung.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich wünschen – für die Hunde dieser Welt?

Dr. Jochen Stadler: Dass man sich bewusst wird, dass man seit 30.000 Jahren mit dem Hund zusammenlebt. Hunde waren immer die Partner des Menschen. Unsere Evolution wäre ohne Hund anders verlaufen. Sätze wie „Wir brauchen keine Hunde mehr“, oder „Hunde sind nur Beiwerk – die braucht heute keiner“, gehören nicht gesagt. Hunde waren damals wichtig und sie sind es auch heute. Sie nehmen nur eine andere Funktion ein, heute z.B. für das Sozialleben. Ich meine, dies verdient ein bisschen mehr Respekt vor der Beziehung mit Hunden.

Vielen Dank, sehr geehrter Dr. Stadler, für das ausführliche Gespräch.

Zum Weiterlesen:

Guter Hund, böser Hund

Wegweiser für Rudelführer

erschienen im ecowin-Verlag, ISBN, 978-7110-0240-2

Fotos: Udo Titz, Jochen Stadler, Beate Stadler


Dr. Jochen Stadler weiß, dass Hunde auch heute noch eine wichtige Rolle für den Menschen spielen. Der Biologe schreibt als Wissenschaftsjournalist unter anderem für das Wissenschaftsmagazin der Wiener Stadtzeitung Falter.

Dieses Interview stammt aus der HundeWelt.

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