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Der bellende Türsteher

Gustav entscheidet, wer ins Haus darf – und wer für immer draußen bleibt.

Irgendwann ist Gustav zu der Überzeugung gelangt, dass er der Sicherheitschef unseres Hauses ist. Niemand hat ihm diesen Job gegeben. Er hat ihn sich einfach genommen. Und er nimmt ihn sehr ernst.

Zu ernst.

Gustav hat ein komplexes Bewertungssystem entwickelt, nach dem er entscheidet, wer willkommen ist und wer eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellt. Dieses System ist für alle anderen völlig unverständlich, für Gustav aber kristallklar.

Nehmen wir zum Beispiel Frau Schmidt von nebenan. Sie kommt regelmäßig vorbei, um sich Zucker zu leihen oder über das Wetter zu reden. Gustav begrüßt sie jedes Mal, als wäre sie seine lang vermisste Schwester. Schwanzwedeln, freudiges Winseln, das volle Programm.

“Hallo, Gustav!”, sagt Frau Schmidt, und Gustav schmilzt dahin wie Butter in der Sonne.

Dann gibt es Herrn Weber vom Ende der Straße. Ein netter Mann, der manchmal joggt und dabei freundlich grüßt. Gustavs Bewertung: Staatsfeind Nummer eins. Sobald Herr Weber auch nur in die Nähe unseres Grundstücks kommt, verwandelt sich Gustav in einen bellenden Wachhund.

“Was ist denn mit Herrn Weber?”, fragte ich Gustav einmal.

“Der tut doch niemandem was.”

Gustav sah mich an mit diesem Blick, der sagte: “Du verstehst nicht, wie gefährlich dieser Mann ist. Gut, dass ich hier bin.”

Aber der absolute Erzfeind, der Staatsfeind Nummer eins, der Grund, warum Gustav vermutlich glaubt, er hätte den härtesten Job der Welt, ist unser Postbote.

Herr Müller macht seinen Job seit fünfzehn Jahren. Er ist pünktlich, freundlich und bringt uns täglich unsere Post. Für Gustav ist er der Beweis dafür, dass die Apokalypse kurz bevorsteht.

Jeden Morgen um zehn Uhr beginnt das Drama. Gustav hört das Motorrad schon drei Straßen weiter. Sein Kopf geht hoch, seine Ohren stellen sich auf, und er bekommt diesen Blick. Diesen “Jetzt geht’s ums Ganze”-Blick.

“Gustav”, sage ich dann vorbeugend, “das ist nur der Postbote. Der macht das jeden Tag. Das ist normal.”

Gustav hört mich nicht. Gustav ist bereits im Einsatz.

Er rennt zur Haustür und positioniert sich strategisch. Wie ein Soldat, der eine wichtige Stellung verteidigt. Dann wartet er.

Das Motorrad kommt näher. Gustav fängt an zu grummeln. Ein tiefes, bedrohliches Grummeln, als würde er sagen: “Ich weiß, dass du da bist. Und ich bin bereit.”

Herr Müller hält vor unserem Briefkasten. Gustav explodiert.

“WUFF WUFF WUFF WUFF!”

Nicht normales Bellen. Kampfbellen. Alarmstufe Rot. Die Art von Bellen, die Nachbarn dazu bringt, aus dem Fenster zu schauen und zu fragen: “Brennt es?”

“Gustav, beruhig dich!”, rufe ich.

Aber Gustav ist nicht zu beruhigen. Er ist im Dienst. Er verteidigt seine Familie gegen den gefährlichsten Mann der Welt: einen freundlichen 50-jährigen Postboten mit Brille.

Herr Müller, der das täglich über sich ergehen lassen muss, hat eine bewundernswerte Gelassenheit entwickelt. Er steckt die Post in den Briefkasten, als würde Gustav nicht existieren. Manchmal winkt er sogar.

Das macht Gustav noch wütender. “WUFF WUFF WUFF! Er ignoriert mich! DAS ist verdächtig!”

Neulich öffnete ich die Tür, während Gustav sein Anti-Postboten-Konzert gab. “Entschuldigung”, sagte ich zu Herrn Müller. “Er meint es nicht böse.”

Herr Müller lächelte. “Das sagen alle Hundebesitzer.”

“Aber er ist wirklich harmlos”, versicherte ich.

In diesem Moment stürzte sich Gustav gegen die Glastür, als würde er versuchen, sie zu durchbrechen. Mit der Entschlossenheit eines Actionhelden, der die Welt retten muss.

“Sehr harmlos”, sagte Herr Müller trocken.

Das Verrückte ist: Gustav behandelt nicht alle Uniformierten so. Den Paketboten von DHL begrüßt er wie einen alten Freund. Der DPD-Fahrer bekommt Schwanzwedeln und freudiges Winseln. Aber unser Postbote? Unser treuer, zuverlässiger Postbote? Der ist offenbar die Inkarnation des Bösen.

“Vielleicht riecht er komisch”, spekulierte meine Frau.

“Oder er hat mal was gemacht, was Gustav nicht gefallen hat”, meinte Clara.

“Was denn?”, fragte ich. “Seine Arbeit?”

Mats hatte eine andere Theorie: “Vielleicht denkt Gustav, der Postbote will unsere Briefe klauen.”

Das ergab sogar Sinn. Aus Gustavs Sicht kommt täglich ein fremder Mann, nimmt unseren Briefkasten auseinander und verschwindet wieder. Natürlich ist das verdächtig!

Ich beschloss, Gustav zu desensibilisieren. Ich würde ihm beweisen, dass der Postbote harmlos ist.

Am nächsten Morgen wartete ich mit Gustav im Vorgarten auf Herrn Müller. “Siehst du?”, sagte ich zu Gustav, als das Motorrad kam. “Das ist nur Herr Müller. Ein netter Mann.”

Gustav sah den Postboten kommen und begann zu zittern. Nicht vor Angst. Vor Aufregung. Wie ein Boxer vor dem großen Kampf.

“Guten Morgen, Herr Müller!”, rief ich fröhlich.

“Guten Morgen”, rief er zurück und stieg vom Motorrad.

Gustav konnte sich nicht mehr zurückhalten. “WUFF WUFF WUFF! ER STEIGT AB! DAS IST EINE ESKALATION!”

“Gustav, ruhig”, sagte ich und hielt ihn fest. “Herr Müller, kommen Sie doch mal her. Gustav soll sehen, dass Sie nett sind.”

Herr Müller kam näher. Gustav wurde hysterisch. “WUFF WUFF WUFF! ER KOMMT NÄHER! ALARMSTUFE ROT!”

“Hallo, Gustav”, sagte Herr Müller freundlich und streckte die Hand aus.

Gustav verstummte. Einen Moment lang herrschte absolute Stille. Dann schnüffelte er vorsichtig an Herrn Müllers Hand.

“Siehst du?”, sagte ich erleichtert. “Er ist—”

Gustav bellte einmal kurz und lief weg. Seine Analyse war abgeschlossen. Urteil: immer noch gefährlich.

“Tut mir leid”, sagte ich zu Herrn Müller. “Ich dachte, das würde helfen.”

“Ist schon okay”, sagte er. “Ich bin es gewohnt. Ihr Hund ist nicht der einzige, der mich für einen Kriminellen hält.”

Seit diesem Tag habe ich Gustavs Türsteher-Politik akzeptiert. Frau Schmidt ist willkommen, Herr Weber ist verdächtig, und der Postbote ist ein Staatsfeind. Das sind Gustavs Regeln, und er hält sich daran.

Neulich kam ein neuer Nachbar vorbei, um sich vorzustellen. Gustav musterte ihn eine Minute lang schweigend. Dann wedelte er mit dem Schwanz.

“Willkommen im Viertel”, bellte Gustav. Sozusagen.

“Wie entscheidet er das?”, fragte der neue Nachbar.

“Keine Ahnung”, sagte ich ehrlich. “Gustav hat seine eigenen Kriterien.”

Und das ist okay. Jeder Türsteher hat seine eigenen Regeln. Manche lassen nur Leute mit den richtigen Schuhen rein. Gustav lässt nur Leute rein, die seiner geheimen Sicherheitsprüfung standhalten.

Dass der Postbote seit fünf Jahren täglich durchfällt, ist nicht mein Problem. Das ist zwischen Gustav und Herrn Müller.

Heute Morgen hörte ich wieder das vertraute “WUFF WUFF WUFF!” aus dem Flur. Herr Müller war da. Gustav war im Einsatz.

“Gustav”, sagte ich, “eines Tages wirst du verstehen, dass der Postbote ein Freund ist.”

Gustav sah mich an und schüttelte den Kopf. Seine Botschaft war klar: “Solange ich hier bin, wird dieser Mann keinen Fuß über unsere Schwelle setzen.”

Und ehrlich? Ich bewundere seine Konsequenz. Gustav ist vielleicht nicht der logischste Türsteher der Welt, aber er ist der zuverlässigste. Seit fünf Jahren lässt er den Postboten nicht rein. Das nenne ich Prinzipientreue.

Benno Böhmer lebt mit seiner Familie und Gustav in einer Reihenhaussiedlung, wo Gustav als selbsternannter Sicherheitschef eine Ein-Hund-Armee bildet – mit sehr eigenwilligen Feindbildern.

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