Wie ein Hund lernt, zu vertrauen
Jüli kam als winziges und verfilztes Knäuel aus dem Tierschutz. Sie musste dringend geschoren werden, biss aber alle weg. Hundetrainerin Cris Bilinski erklärt, wie man einem Hund zeigen kann, wieder zu vertrauen.
Nicht selten sind Fälle wie dieser.
Meine Freundin Beate ließ sich vom Tierschutz einen kleinen Mischling bringen. In der Hoffnung, etwas Gutes zu tun und einem winzigen haarigen Knäuel eine Chance auf ein neues Leben zu geben. Kurz darauf rief sie mich verzweifelt an. „Sie beißt, rennt weg, hat einfach nur Angst!“ Ich sagte: „Lass sie bitte in Ruhe. Sie muss erstmal ankommen. Stell dir vor, sie kennt nichts und vor allem kennt sie dich nicht. Es reicht, wenn du ihr Futter und Wasser hinstellst und dich nicht weiter kümmerst.“ Nachts kam eine Nachricht von ihr: „Jüli sitzt neben mir!“
Meine Freundin wollte mit dem Fellknäuel zu mir zum Unterricht.
Ich verordnete ein paar Tage pure Ruhe. Dann rief sie mich an. Unglaublich, was sie mittlerweile über das kleine Fellknäuel erfahren hatte. Jüli war ein Straßenhund. Ihrem Aussehen nach zu urteilen eine Mischung aus Pekingese und Collie. Vom Ausland nach Deutschland – das alleine bedeutet für einen Hund schon eine Menge Stress. Auf der Pflegestelle angekommen musste sie erst einmal geschoren werden. Denn ihr Fell war wie ein Panzer. Alles war verfilzt. Der Schwanz so lang und schwer, dass er am Boden nachschleifte. Und dann das große Trauma. Eine Tierärztin band dem verängstigten Hund die Schnauze zu und hat ihn zwangsgeschoren. Ich konnte es nicht glauben. Hätten die nicht eine Narkose machen können? Völlig verständlich, dass sich der unschuldige Vierbeiner so verhielt. Jüli ließ sich einfach nicht mehr anfassen.
Solche Hunde gebe ich in der Regel in die Hundegruppe.
Die integrieren – egal, wie die Neuen drauf sind. Sie fordern auf, oder ignorieren. So können sich die Neuen selbst finden. Auch während des Unterrichts dürfen sich diese Hunde frei bewegen. Nach einigen Übungsstunden wurde Jüli ruhiger. So langsam lernte sie, mitzuarbeiten. Trotzdem durfte sie weiterhin niemand berühren. Ich schlug meiner Freundin vor, Jüli ein paar Tage zu mir und meinen Fellnasen zu nehmen. Es war nämlich soweit: Der Hundefriseur stand an. Ich ließ ihn zu mir kommen. Beate musste sich im Hintergrund zurückhalten. Ich übernahm und hielt Jüli vorsichtig fest. Der erste Schnitt? Na ja. Aber sie bemerkte, dass ihr nichts passierte und sie nichts zu befürchten hatte. Dass ich bestimme, ohne großen Druck. Dreimal pro Jahr vollzugen wir diese Prozedur. Wichtig war, dass die Haare an der Rute gekürzt wurden, weil sie durch die vielen langen Haare nicht mehr zu halten war. Von Mal zu Mal wurde der Schnitt dann besser. Das Problem war aber, dass sie außer mir immer noch keinem vertraute. Anfassen war absolut verboten.
Wie habe ich also Vertrauen aufgebaut?
Ein Beispiel: Beim auf den Tisch heben ist darauf zu achten, dass man den Hund nicht einfach nimmt und raufhebt, sondern es ihm überlässt. Heißt: Ich stelle die Vorderbeine auf den Tisch, so versucht der Vierbeiner, sich hochzuziehen. Er klettert sozusagen selbst hoch. Das löst bei sehr ängstlichen Hunden ein neues Bewusstsein aus, nicht ausgeliefert zu sein. Jüli wurde von Woche zu Woche zugänglicher, weil die Tischübung auch beim Unterricht mit vielen Anderen geübt wurde. Wir gewöhnten sie langsam ans Kämmen, oder ans Berühren am ganzen Körper. Die Gewohnheit führte dazu, dass es uns möglich war, Jülis Fell grundsätzlich kurz zu halten. Dadurch, dass sie nicht mehr verfilzte und somit keine Schmerzen auftraten, war der Stress geringer. Angriffe erfolgten kaum noch, Bisse bei mir nur noch abschnappen, keine Verletzungen. Und ja, es braucht Zeit – und davon sehr viel. Zudem Einfühlungsvermögen und Ruhe. Sonst gelingt kein Erfolg. Und Jüli? Heute ist sie ein sehr ruhiger Hund. Zu dem ist sie aber nur geworden, weil wir am Ball geblieben sind – das hat fast ein ¾ Jahr gebraucht. Die Hoffnung nicht aufzugeben, auch wenn es unmöglich scheint, das ist Geduld.
Mehr Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten: Hunde werden mutiger, wenn man ihnen die Möglichkeit gibt, etwas allein bestimmen zu dürfen. Hier ist es entscheidend, dass der Hund nicht einfach auf einen Tisch gestellt wird. Er entscheidet sich selbst dazu, auf den Tisch zu steigen.
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Mit Herz und Sachverstand erzählt Cris Bilinski von 15 Hundeschicksalen, und mit jeder Geschichte entwickeln wir mehr Sachverstand und werden für unseren Hund zu einem besseren Menschen.
Titel: AdobeStock/Cristina Conti