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Gustavs Gesetz: Was runterfällt, gehört dem Hund

Es gibt Naturgesetze, die Newton nie entdeckt hat. Zum Beispiel Gustavs Gesetz. Es besagt: Alles, was auf den Boden fällt, gehört automatisch dem Hund. Keine Diskussion. Keine Berufung. Gustav ist Richter und Vollstrecker in einer Person – beziehungsweise in einem 35-Kilo-Labrador-Körper mit der Wendigkeit einer Briefmarke und dem Hungergefühl eines Teenagers.

Dieses Gesetz wurde in unserem Haushalt nie offiziell verkündet. Es hat sich einfach durchgesetzt. Wie eine Diktatur, nur flauschiger und mit mehr Sabberei.

Neulich beim Frühstück demonstrierte Gustav wieder einmal seine juristische Kompetenz. Mats, unser Siebenjähriger, der beim Essen grundsätzlich aussieht, als würde er einen Marmeladenkampf gegen unsichtbare Gegner führen, ließ ein Stück Buttertoast fallen. Noch bevor es den Boden berührt hatte – und ich schwöre, das ist physikalisch unmöglich, aber Gustav schafft es trotzdem –, war es bereits in seinem Maul verschwunden.

“Papa”, sagte Mats anklagend, “Gustav hat mein Brot geklaut!”

“Nicht geklaut”, korrigierte ich, während ich zusah, wie Gustav zufrieden schmatzend unter dem Tisch lag. “Das ist Gustavs Gesetz. Was runterfällt, gehört dem Hund.”

“Das ist unfair!”, protestierte Clara, unsere 13-jährige Tochter, die grundsätzlich alles unfair findet, was nicht direkt zu ihrem Vorteil ist. “Warum darf Gustav alles essen, was runterfällt, aber ich muss mein Gemüse aufessen?”

Eine berechtigte Frage. Eine, auf die ich keine vernünftige Antwort hatte. Denn tatsächlich ist Gustavs Gesetz in unserem Haushalt mächtiger als jede elterliche Autorität.

Meine Frau, die wie immer drei Dinge gleichzeitig macht – Kaffee trinkt, E-Mails checkt und dabei aussieht, als hätte sie ihr Leben im Griff –, warf mir einen dieser Blicke zu. Dieser Blick bedeutet: “Du hast wieder mal keine Ahnung, wie man erzieht, aber ich erkläre es dir später, wenn die Kinder im Bett sind.”

“Gustav ist ein Hund”, sagte sie diplomatisch. “Hunde haben andere Regeln.”

“Ich will auch ein Hund sein!”, rief Mats und ließ prompt sein zweites Toaststück fallen. Gustav war zur Stelle, noch bevor Mats “Wuff” sagen konnte.

Das Problem mit Gustavs Gesetz ist, dass es sich immer weiter ausgedehnt hat. Anfangs galt es nur für Krümel. Dann für ganze Brotstücke. Mittlerweile beansprucht Gustav alles, was auch nur in die Nähe des Bodens kommt. Letzte Woche hat er versucht, meinen Autoschlüssel zu fressen, nur weil ich ihn fallen gelassen hatte.

“Gustav”, sagte ich streng, “Autoschlüssel sind kein Futter.”

Gustav sah mich an mit diesem Blick, den nur Labradore hinbekommen. Dieser Blick sagt: “Laut Gesetz gehört mir alles, was runterfällt. Du hast die Regeln gemacht, nicht ich.”

Und das Schlimme ist: Er hat recht.

Die Sache eskalierte vollends, als wir neulich Besuch hatten. Meine Schwiegermutter, eine Frau, die Ordnung und Disziplin schätzt wie andere Menschen Schokolade, saß bei uns am Küchentisch. Sie erzählte gerade von ihrem neuen Kochkurs, als ihr ein Stück Apfelkuchen von der Gabel rutschte.

Gustav, der bis dahin friedlich in der Ecke gelegen hatte, sprang auf wie ein Feuerwehrmann beim Alarm. In einer fließenden Bewegung, die bei einem Hund seines Kalibers eigentlich unmöglich sein sollte, schnappte er sich den Kuchenbrocken.

“Was… was war das denn?”, stammelte meine Schwiegermutter.

“Gustavs Gesetz”, erklärte Mats hilfsbereit. “Was runterfällt, gehört dem Hund.”

Meine Schwiegermutter sah aus, als hätte sie gerade erfahren, dass wir eine Sekte gegründet hatten. Was in gewisser Weise auch stimmte. Eine Sekte, die einen übergewichtigen Labrador anbetet.

“Aber das ist doch unhygienisch”, protestierte sie.

“Mama”, sagte meine Frau geduldig, “Gustav leckt sich täglich an Stellen, wo ich nicht mal hinschaue. Ein bisschen Kuchen vom Boden ist da das kleinste Problem.”

Inzwischen hat sich Gustavs Gesetz so sehr in unserem Alltag etabliert, dass wir automatisch damit rechnen. Wenn meine Frau kocht, wirft sie gezielt Gemüsereste auf den Boden, damit Gustav sie wegräumt. “Natürliche Küchenreinigung”, nennt sie das.

Clara hat angefangen, Sachen absichtlich fallen zu lassen, wenn ihr das Essen nicht schmeckt. “Ups”, sagt sie dann unschuldig, während Gustav dankbar ihre Brokkoli-Reste vertilgt.

Und Mats hat das System perfektioniert. Er lässt regelmäßig die Hälfte seines Pausenbrots fallen, weil er weiß, dass Gustav es aufessen wird und er dann sagen kann: “Mama, mein Brot ist alle. Kann ich Süßigkeiten haben?”

Selbst ich habe mich dem Gesetz unterworfen. Wenn ich abends Chips esse und eine auf den Boden fällt, versuche ich gar nicht mehr, sie aufzuheben. Gustav ist schneller, und ehrlich gesagt: Die Fünf-Sekunden-Regel ist sowieso Quatsch. Gustav hält sich an die Null-Sekunden-Regel.

Neulich fragte mich ein Nachbar, wie wir es schaffen, dass unser Küchenboden immer so sauber ist. Ich wollte ihm von unserem High-Tech-Reinigungssystem erzählen – einem Labrador namens Gustav. Aber dann dachte ich: Manche Geheimnisse sollte man für sich behalten.

Heute Morgen beim Frühstück fiel mir eine Kirschtomate aus dem Salat. Noch während sie durch die Luft segelte, dachte ich: “Gustavs Gesetz.” Und tatsächlich – Gustav war da und schnappte sie weg, bevor sie landen konnte.

“Papa”, sagte Clara grinsend, “du hast das extra gemacht.”

“Nein”, log ich. “Das war ein Versehen.”

Aber Clara hatte recht. Irgendwann wird man selbst Teil von Gustavs Gesetz. Man wirft Sachen runter, nur um zu sehen, wie schnell der Hund reagiert. Es ist wie ein Computerspiel, nur mit mehr Sabberei.

Meine Frau beobachtete die Szene kopfschüttelnd. “Du weißt schon, dass Gustav inzwischen übergewichtig ist?”

“Das liegt nicht an den runtergefallenen Sachen”, verteidigte ich mich. “Das liegt an seinem Stoffwechsel.”

“Sein Stoffwechsel funktioniert perfekt”, sagte sie. “Er verwandelt alles in Fett und gute Laune.”

Sie hatte nicht unrecht. Gustav ist der glücklichste Hund der Welt. Warum auch nicht? Er lebt in einem Haushalt, in dem ständig Essen vom Himmel fällt. Aus seiner Sicht muss er denken, er wäre im Paradies gelandet.

Das Verrückte ist: Gustavs Gesetz funktioniert nur bei essbaren Sachen. Wenn meine Socke runterfällt, interessiert ihn das nicht. Wenn mein Handy runterfällt, auch nicht. Nur Essbares aktiviert seinen Turbo-Modus.

“Wie macht er das?”, fragte ich letztens meine Frau.

“Wie weiß er sofort, ob etwas essbar ist oder nicht?”

“Hundejahre der Evolution”, antwortete sie trocken. “Gustav ist ein Foodradar auf vier Beinen.”

Und so leben wir weiter mit Gustavs Gesetz. Es herrscht Frieden im Königreich, solange der Hund sein Tribut bekommt. Manchmal denke ich, wir sollten es offiziell ins Grundgesetz unseres Haushalts aufnehmen. Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Artikel 2: Was runterfällt, gehört Gustav.

Eigentlich könnte man sagen: Gustav hat das perfekte System erschaffen. Er tut nichts, und trotzdem fällt ihm das Essen direkt ins Maul. Das nenne ich Lebenskunst. Oder wie Clara sagen würde: “Total unfair, aber irgendwie genial.”

Heute Abend werde ich ihm extra ein Stück Käse fallen lassen. Nicht aus Versehen. Sondern weil auch Könige ab und zu eine Belohnung verdienen. Und Gustav ist nun mal der König des Küchenfußbodens.

Benno Böhmer lebt mit seiner Familie und Gustav in einer Reihenhaussiedlung, wo inzwischen alle Nachbarn wissen: Bei Böhmers gilt Gustavs Gesetz.

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