
Slow-Living mit Samtpfoten: Was wir von Katzen lernen können
Wenn der beste Lehrer vier Pfoten hat und den ganzen Tag demonstriert, wie Entschleunigung geht
Von Sophie Mindberg
Es ist 14:30 Uhr an einem Dienstag. Ich sitze gestresst am Laptop, drei Artikel-Deadlines im Nacken, während Milo auf der Fensterbank liegt und… nichts tut. Einfach nichts. Er schaut eine Weile raus, putzt sich gemächlich eine Pfote, döst wieder ein. Kein Stress, keine Hektik, kein schlechtes Gewissen wegen “verlorener” Zeit.
In diesem Moment wird mir klar: Mein Kater ist ein Slow-Living-Meister, ohne jemals ein Buch darüber gelesen zu haben.
Der Burnout-Warnschuss
Die Erkenntnis kam nicht von ungefähr. Nach einem besonders intensiven Jahr mit ständigen Reisen zwischen Hamburg und Byron Bay, endlosen To-Do-Listen und dem Gefühl, permanent hinterherzuhängen, warnte mich meine Ärztin vor den ersten Anzeichen eines Burnouts. “Sie müssen langsamer machen”, sagte sie. “Lernen Sie von Ihrem Kater.”
Ein Scherz? Zunächst dachte ich das. Aber je mehr ich Milo beobachtete, desto mehr verstand ich, was sie meinte.
Die Kunst des Nichtstuns
Katzen verbringen 12 bis 16 Stunden täglich mit Schlafen oder Dösen. Klingt faul? Ist es aber nicht. Sie folgen ihrem natürlichen Rhythmus, tanken Energie für die wichtigen Momente auf – Spielen, Jagen, intensive Kuscheleinheiten.
Ich hingegen füllte jeden freien Moment mit irgendetwas. Während der Kaffee durchlief, checkte ich E-Mails. In der Bahn las ich Fachliteratur. Selbst beim Essen scrollte ich durch Social Media. Pausen? Fehlanzeige.
Der 30-Tage-Katzen-Experiment
Inspiriert von Milos entspannter Lebensweise beschloss ich, einen Monat lang bewusst “katzenähnlicher” zu leben. Die Regeln waren einfach:
Regel 1: Echte Pausen machen Wie Milo lernte ich, Pausen als das zu sehen, was sie sind: essentiell. Keine Multitasking-Pausen, sondern echte Auszeiten. Wenn ich Kaffee trank, dann nur das. Wenn ich auf dem Balkon saß, dann ohne Handy.
Regel 2: Dem eigenen Rhythmus folgen Katzen sind crepuskulär – in der Dämmerung am aktivsten. Ich begann, meine produktivsten Zeiten bewusst wahrzunehmen und entsprechend zu planen. Morgens war ich kreativ, nachmittags eher müde. Statt dagegen anzukämpfen, gestaltete ich meinen Tag entsprechend um.
Regel 3: Prioritäten setzen wie eine Katze Für Milo gibt es klare Prioritäten: Fressen, Schlafen, Spielen, Kuscheln. Alles andere ist optional. Ich begann, meine endlose To-Do-Liste auf die wirklich wichtigen Dinge zu reduzieren.
Die wissenschaftliche Seite
Eine Schlafforscherin aus Hamburg, die ich für einen anderen Artikel interviewt hatte, bestätigte meine Beobachtungen: “Menschen in industrialisierten Ländern haben oft verlernt, auf ihre natürlichen Rhythmen zu hören. Tiere folgen instinktiv ihren circadianen Zyklen – davon können wir lernen.”
Studien zeigen, dass regelmäßige Pausen die Kreativität steigern und Stress reduzieren. Was Katzen intuitiv machen, müssen wir bewusst wieder lernen.
Woche 1: Der Widerstand
Die ersten Tage waren schwer. Einfach nur zu sitzen und Kaffee zu trinken, ohne dabei etwas zu “schaffen”, fühlte sich falsch an. Mein Kopf ratterte weiter, auch wenn mein Körper stillhielt.
Milo half unfreiwillig: Wenn er auf meinem Schoß lag und schnurrte, war Aufstehen schlicht unmöglich. So lernte ich, 15-20 Minuten einfach zu sein.
Woche 2: Erste Erkenntnisse
Allmählich begann ich, die Qualität der Pausen zu schätzen. Der Kaffee schmeckte intensiver, wenn ich ihn bewusst trank. Die Gespräche mit Freunden wurden tiefer, weil ich wirklich zuhörte, statt nebenbei zu planen.
Milos Fähigkeit, komplett im Moment zu sein, wurde zu meinem Vorbild. Wenn er einen Sonnenfleck verfolgte, gab es für ihn nichts anderes. Diese Fokussierung auf das Hier und Jetzt übte ich nach.
Woche 3: Der Durchbruch
In der dritten Woche passierte etwas Überraschendes: Obwohl ich weniger “produktive” Stunden hatte, schaffte ich genauso viel. Die Arbeit floss leichter, weil ich ausgeruhter und fokussierter war.
Wie Milo lernte ich, zwischen wichtig und dringend zu unterscheiden. Die meisten “dringenden” E-Mails waren bei näherer Betrachtung gar nicht so wichtig.
Woche 4: Integration
Am Ende des Monats hatte sich mein Alltag merklich verändert. Ich stand nicht mehr sofort nach dem Aufwachen auf, sondern lag noch fünf Minuten da – wie Milo, der sich erst ausgiebig streckt und reckt, bevor er den Tag beginnt.
Abends entwickelte ich eine “Sunset-Routine”: Zeit auf dem Balkon, ohne Ziel und Zweck, nur um den Tag ausklingen zu lassen. Milo gesellte sich meist dazu, und wir “chillten” gemeinsam.
Was Katzen wirklich lehren
Präsenz über Produktivität: Katzen sind niemals abgelenkt. Wenn sie essen, essen sie. Wenn sie spielen, sind sie ganz dabei. Diese Achtsamkeit können wir üben.
Grenzen setzen: Keine Katze lässt sich zu etwas zwingen, worauf sie keine Lust hat. Sie kennen ihre Bedürfnisse und kommunizieren sie klar.
Genuss ohne Schuldgefühle: Milo genießt sein Futter, seine Kuscheleinheiten, sein Sonnenbad – ohne sich dafür zu rechtfertigen.
Intuition vertrauen: Katzen folgen ihrem Instinkt. Sie wissen, wann sie Ruhe brauchen und wann sie aktiv sein möchten.
Praktische Slow-Living-Tipps
Morgenritual: Wie Milo erst mal strecken und den Körper spüren, bevor der Tag beginnt.
Pausen-Inseln: Bewusst 5-10 Minuten nur sitzen, ohne Handy oder Buch.
Sonnenplätze finden: Den hellsten, wärmsten Platz in der Wohnung für bewusste Auszeiten nutzen.
Prioritäten-Check: Täglich fragen: Was ist heute wirklich wichtig? (Meist weniger, als wir denken)
Für wen funktioniert es?
Katzen-inspiriertes Slow-Living eignet sich für:
- Menschen, die merken, dass Geschwindigkeit nicht automatisch Effizienz bedeutet
- Alle, die unter ständiger Rastlosigkeit leiden
- Menschen, die wieder lernen möchten, im Moment zu sein
- Gestresste Perfektionisten, die Entschleunigung üben wollen
Weniger geeignet für:
- Menschen in akuten Krisenzeiten (da sind andere Strategien nötig)
- Sehr zielorientierte Typen, die Ruhe als Zeitverschwendung empfinden
- Alle, die bereits ein gutes Gefühl für Work-Life-Balance haben
Bin ich nach einem Monat zur perfekten Slow-Living-Expertin geworden?
Nein. Verfalle ich manchmal wieder in alte Hektik-Muster? Ja. Aber ich habe einen lebenden Lehrer im Haus, der mir täglich zeigt, wie Entschleunigung aussieht.
Milo hat mir nicht nur gezeigt, wie man langsamer lebt, sondern auch, dass Slow-Living nicht Faulheit bedeutet. Es bedeutet, bewusster zu leben. Präsenter zu sein. Die wichtigen Dinge zu priorisieren.
Während ich das hier schreibe, liegt er wieder auf der Fensterbank. Entspannt, wach, bereit für das, was kommt. Ohne Stress, ohne schlechtes Gewissen, ohne den Drang, produktiv sein zu müssen.
Vielleicht ist das die größte Lektion: Manchmal ist das Wertvollste, was wir tun können, einfach zu sein.
Sophie Mindberg ist Wellness-Journalistin, zertifizierte Yoga-Lehrerin und lebt zwischen Hamburg und Byron Bay. Sie übt weiterhin täglich, von ihrem Kater Milo zu lernen.