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Käsebrote, Kauknochen und Kindertränen

Was passiert, wenn alle etwas wollen – und nur der Hund es bekommt

Es war einer dieser Nachmittage, an denen das Leben aus den Fugen gerät. Alle kamen gleichzeitig nach Hause – Clara vom Volleyballtraining, Mats aus der Schule, ich vom Einkaufen, meine Frau von einem Marathontag im Büro. Alle waren hungrig, müde und schlecht gelaunt. Perfekte Voraussetzungen für das, was Familientherapeuten vermutlich “Verteilungskonflikte” nennen und was ich “Donnerstagnachmittag” nenne.

“Ich hab Hunger!”, verkündete Mats und warf seine Schultasche in die Ecke.

“Ich auch!”, rief Clara und ließ sich dramatisch auf einen Küchenstuhl fallen. “Ich sterbe vor Hunger!”

“Alle haben Hunger”, sagte meine Frau und öffnete den Kühlschrank. “Mal schauen, was da ist.”

Ich ahnte schon Böses, als ich ihren Gesichtsausdruck sah. Den Blick einer Mutter, die feststellt, dass der Kühlschrank leerer ist als ein Politikerversprechen.

“Wir haben”, sagte sie langsam, “zwei Scheiben Brot, ein bisschen Käse und eine Tomate.”

“Für vier Personen?”, fragte ich.

“Für vier Personen.”

Gustav, der das Wort “Käse” gehört hatte, kam angetrottet und setzte sich strategisch günstig vor den Kühlschrank. Sein Schwanz wedelte hoffnungsvoll.

“Und Gustav”, ergänzte Clara düster.

“Gustav hat sein eigenes Futter”, sagte ich. “Das ist kein Problem.”

Wie falsch ich lag.

Meine Frau fing an, die Ressourcen zu verteilen wie eine UN-Friedensmission. “Also, ich mache ein Käsebrot für Clara, eins für Mats, und wir Erwachsenen teilen uns die Tomate.”

“Das ist unfair!”, protestierte Mats. “Ich will auch Tomate!”

“Ich will das ganze Käsebrot!”, rief Clara. “Ich hab zwei Stunden Volleyball gespielt!”

“Ich hab acht Stunden gearbeitet!”, konterte meine Frau.

Gustav beobachtete die Diskussion mit dem Interesse eines Richters bei einem wichtigen Prozess. Sein Kopf wanderte von Person zu Person, als würde er verfolgen, wer die besten Argumente hatte.

“Okay”, sagte ich diplomatisch. “Ich verzichte auf das Käsebrot. Macht einfach zwei für die Kinder.”

“Nein”, sagte meine Frau. “Du musst auch was essen.”

“Dann teilen wir alles in winzige Stücke”, schlug ich vor. “Jeder bekommt ein Viertel Käsebrot und ein Achtel Tomate.”

Clara sah mich an, als hätte ich vorgeschlagen, die Demokratie abzuschaffen. “Ein Viertel Käsebrot? Papa, das ist nichts!”

“Besser als gar nichts”, sagte ich.

Meine Frau begann tatsächlich, mathematisch gerechte Portionen zu schneiden. Winzige Brotstücke, mikroskopisch kleine Käsestückchen, Tomatenscheiben, die so dünn waren, dass man hindurchsehen konnte.

“Das sieht aus wie Puppenfutter”, maulte Mats.

Gustav, der die Verteilung beobachtet hatte, beschloss, dass das seine Chance war. Er stand auf, ging gemächlich zum Küchentisch und… wartete.

Er wartete nicht lange.

Mats, der versucht hatte, sein Viertel-Käsebrot mit einer Hand zu essen und gleichzeitig seine Schultasche auszupacken, ließ das winzige Sandwich fallen.

Gustav war zur Stelle, bevor es den Boden berührte. Ein perfekter Fang. Ein Viertel Käsebrot – weg.

“GUSTAV!”, schrie Mats. “Das war meins!”

Gustav kaute zufrieden und wedelte, als würde er sagen: “Danke für die Spende!”

“Mats bekommt von meinem Stück ab”, sagte Clara großherzig.

“Nein!”, protestierte Mats. “Ich will ein ganzes Stück!”

“Gibt es nicht”, sagte meine Frau. “Das war alles, was wir hatten.”

Gustav, der bemerkt hatte, dass seine Jagdtaktik funktioniert hatte, positionierte sich noch strategischer. Direkt unter Claras Ellbogen.

“Gustav”, warnte ich, “geh weg da.”

Gustav tat so, als würde er mich nicht hören. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Claras Käsebrot-Viertel.

Clara, die auf ihr Handy schaute und gleichzeitig aß, machte eine unbedachte Bewegung. Das Käsestückchen rutschte vom Brot und fiel…

Direkt in Gustavs wartenden Mund.

“NEIN!”, schrie Clara. “Nicht schon wieder!”

Gustav wedelte dankbar und leckte sich die Lippen. Zwei Treffer in fünf Minuten. Sein persönlicher Rekord.

“Das reicht”, sagte meine Frau und schickte Gustav aus der Küche. “Raus mit dir!”

Gustav ging, aber nur bis vor die Küchentür. Dort legte er sich hin und wartete auf die nächste Gelegenheit.

Jetzt hatten wir noch ein halbes Käsebrot für vier Personen. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt einer Scheidungsverhandlung angekommen.

“Ich hasse Gustav”, murmelte Clara.

“Ich auch”, stimmte Mats zu.

“Gustav kann nichts dafür”, verteidigte ich ihn halbherzig. “Er ist nur… opportunistisch.”

“Er ist ein Dieb”, sagte Clara. “Ein Käsedieb.”

Meine Frau seufzte und schnitt das verbliebene halbe Brot in noch kleinere Stücke. “So, jetzt bekommt jeder ein Achtel Käsebrot.”

“Ein Achtel?”, fragte Mats ungläubig. “Das ist ein Krümel!”

Er hatte recht. Die Portionen sahen aus wie Kostproben in einem schicken Restaurant. Schön arrangiert, aber völlig unzureichend.

Gustav, der die erneute Verteilungsaktion beobachtet hatte, kam zurück in die Küche. Langsam und würdevoll, wie ein König, der sein Reich inspiziert.

“Nein”, sagte meine Frau streng. “Du bleibst weg vom Tisch.”

Gustav setzte sich brav in die Ecke. Aber seine Augen verließen nie unsere Hände.

Wir aßen unsere Krümel-Portionen in angespannter Stille. Jeder hütete sein Achtel-Käsebrot wie einen kostbaren Schatz.

Dann passierte das Unvermeidliche. Ich, der ich versucht hatte, mein winziges Käsebrot besonders vorsichtig zu essen, ließ ein Stückchen fallen.

Gustav bewegte sich wie ein Blitz. Bevor ich auch nur “Nein” sagen konnte, war mein Anteil verschwunden.

“Das war’s”, sagte ich resigniert. “Gustav hat gewonnen.”

“Gewonnen?”, fragte Clara empört. “Wir haben alle nichts mehr, und Gustav hatte ein Festmahl!”

Sie hatte recht. Gustav hatte drei Achtel Käsebrot vertilgt. Das war mehr als jeder von uns ursprünglich bekommen sollte.

“Gustav ist ein strategisches Genie”, sagte meine Frau widerwillig anerkennend.

“Gustav ist ein Parasit”, korrigierte Clara.

Gustav, der die Diskussion über seine Person bemerkt hatte, kam zu mir und legte den Kopf auf meine Knie. Seine Art, sich zu bedanken.

“Wenigstens ist einer von uns satt”, murmelte ich und kraulte ihm den Kopf.

Am Abend gingen wir alle zusammen einkaufen. “Diesmal kaufen wir genug für alle”, verkündete meine Frau. “Auch für Gustav.”

“Gustav hat sein eigenes Futter”, protestierte ich.

“Gustav isst offensichtlich unser Futter”, sagte sie. “Also kaufen wir entsprechend ein.”

Jetzt haben wir immer extra Käse im Kühlschrank. Nicht für uns. Für Gustav. Für den Fall, dass er wieder beschließt, unsere Mahlzeiten zu übernehmen.

“Das ist Erpressung”, sagte Clara neulich.

“Das ist Pragmatismus”, korrigierte meine Frau. “Wenn wir nicht gegen Gustav gewinnen können, arbeiten wir mit ihm zusammen.”

Gustav liegt jetzt jeden Nachmittag vor dem Kühlschrank und wartet auf Brotkrümel. Nicht, weil er hungrig ist. Sondern weil er gelernt hat: Geduld und strategische Positionierung führen zum Erfolg.

“Gustav hat uns alle erzogen”, sagte ich zu meiner Frau.

“Nicht erzogen”, korrigierte sie. “Umerzogen. Wir sind jetzt eine Familie, die immer mit Verlusten kalkuliert.”

“Gustav-Verluste”, ergänzte Clara.

“Die wichtigste Art von Verlusten”, sagte Mats grinsend.

Heute fiel Clara absichtlich ein Stück Käse runter. “Für Gustav”, sagte sie. “Damit er zufrieden ist und unser Essen in Ruhe lässt.”

Das funktioniert tatsächlich. Gustav ist so dankbar für sein offizielles Stück Käse, dass er den Rest unseres Essens ignoriert.

Manchmal ist die beste Strategie gegen einen Opportunisten, ihn zu einem Partner zu machen. Gustav bekommt jetzt offiziell sein Stück vom Kuchen. Dafür lässt er uns unseres in Frieden essen.

Benno Böhmer lebt mit seiner Familie und Gustav in einer Reihenhaussiedlung, wo Gustav inzwischen einen festen Platz im Familienbudget für Lebensmittel hat – verdient durch strategische Überlegenheit.

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