
Fellwechsel ist kein Saisonbetrieb
Wie aus einem Labrador eine zweite Wohnungseinrichtung wird
Andere Hunde wechseln ihr Fell im Frühjahr und Herbst. Gustav hat beschlossen, dass Fellwechsel ein Vollzeitjob ist. Zwölf Monate im Jahr, sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag produziert er Haare mit der Effizienz einer Textilfabrik.
Anfangs dachte ich, das wäre normal. “Labradore haaren”, sagte der Züchter damals. Was er nicht erwähnte: Sie haaren so viel, dass man aus den Resten einen zweiten Hund bauen könnte. Einen großen zweiten Hund.
Ich erkannte das Ausmaß der Katastrophe erst, als ich morgens aufwachte und mein Kopfkissen aussah, als hätte jemand einen Teddy darauf explodieren lassen. Überall blonde Hundehaare. Als würde Gustav nachts heimlich an meinem Bett stehen und sich schütteln.
“Das ist nicht normal”, sagte ich zu meiner Frau.
“Was ist nicht normal?”
“Gustav verliert mehr Haare als ein Friseur an einem Samstag.”
Meine Frau sah sich um. Unser schwarzes Sofa sah aus wie ein Dalmatiner. Der dunkle Teppich hatte blonde Strähnen bekommen. Selbst die Zimmerpflanzen trugen Gustavs Markenzeichen.
“Vielleicht ist er krank?”, sorgte sie sich.
“Oder sehr gesund”, murmelte ich. “Zu gesund.”
Ich googelte “Labrador haart extrem” und fand 2,3 Millionen Suchergebnisse. Das war kein gutes Zeichen. Offenbar war ich nicht der erste Mensch, der von seinem eigenen Hund eingewebt wurde.
Ein Forenbeitrag fing an mit: “Hilfe! Mein Labrador produziert täglich genug Haare für einen Pullover!” Ein anderer: “Ist es normal, dass ich mehr Zeit mit Staubsaugen verbringe als mit Schlafen?”
Ich fühlte mich verstanden.
Der Krieg gegen Gustavs Haare begann systematisch. Ich kaufte einen neuen Staubsauger. Einen richtig guten. Einen, der laut Werbung “auch hartnäckigste Tierhaare mühelos entfernt”.
Der Staubsauger kapitulierte nach drei Tagen. Nicht kaputt – frustriert. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Egal wie oft ich saugte, es sah aus, als hätte ich gar nichts gemacht.
“Das ist wie Sisyphos”, sagte ich zu Gustav. “Kennst du die Geschichte vom Mann, der den Stein den Berg hochrollen muss?”
Gustav wedelte und schüttelte sich. Tausende neue Haare rieselten auf den frisch gesaugten Teppich.
“Sehr witzig”, murmelte ich.
Plan B: Professionelle Bürsten. Ich kaufte eine Unterfellbürste, die angeblich “das Haaren um 90 Prozent reduziert”. Gustav liebte das Bürsten. Er stand da wie ein Model beim Fotoshooting und genoss die Aufmerksamkeit.
Das Problem: Für jeden Bürstenstrich produzierte er gefühlt drei neue Haare. Als würde das Bürsten sein Haarwachstum anregen, wie eine Massage die Durchblutung.
“Gustav”, sagte ich nach einer Stunde Bürsten, “du machst das absichtlich.”
Gustav sah mich unschuldig an. Um uns herum lag genug Fell für einen mittleren Teppich.
Plan C: Strategische Anpassung. Wenn man Gustav nicht ändern konnte, musste man sich anpassen.
Wir verbannten alles Schwarze aus dem Haushalt. Schwarze Kleidung, schwarze Möbel, schwarze Handtücher – alles musste weg. “Wir leben jetzt im Beige-Modus”, verkündete ich der Familie.
“Warum Beige?”, fragte Clara.
“Weil Gustav blonde Haare hat. Beige ist die Kompromissfarbe.”
Clara sah aus, als hätte ich ihr erklärt, dass wir ab sofort nur noch Pappe essen.
Die neue Farbpalette half tatsächlich. Zumindest sahen wir die Haare nicht mehr so deutlich. Sie waren immer noch da – überall –, aber wenigstens nicht mehr so auffällig.
Dann entdeckte ich Gustavs wahres Talent: Er verteilte seine Haare an Orten, wo logischerweise keine Hundehaare sein sollten.
Im Kühlschrank. Wie kommen Hundehaare in den Kühlschrank? Gustav passt nicht in den Kühlschrank. Trotzdem fand ich seine Haare zwischen den Joghurtbechern.
In meinem Computer. Gustav war noch nie in der Nähe meines Computers. Dennoch verstopften seine Haare den Lüfter.
In Claras Schulranzen. Clara geht mit ihrem Ranzen zur Schule. Gustav geht nicht zur Schule. Trotzdem brachte sie täglich eine Haarprobe mit nach Hause.
“Das ist physikalisch unmöglich”, sagte ich zu meiner Frau.
“Gustav kennt keine physikalischen Gesetze”, antwortete sie. “Gustav macht seine eigenen Gesetze.”
Das stimmte. Gustav hatte das Gesetz der Haarverteilung neu definiert. Seine Haare folgten nicht der Schwerkraft. Sie folgten ihren eigenen, geheimnisvollen Regeln.
Neulich kam Besuch. Meine Schwiegermutter, die immer tadellos gekleidet ist und Unordnung allergisch vermeidet.
“Schön, dass du da bist!”, begrüßte ich sie.
Nach zwei Stunden sah sie aus wie Gustav. Nicht weil sie blonde Haare hatte, sondern weil sie voller Gustavs Haare war. Ihr schwarzer Mantel war beige geworden.
“Entschuldigung”, sagte ich und versuchte, die Haare von ihrem Mantel zu entfernen.
Das funktionierte nicht. Gustavs Haare kleben wie Sekundenkleber. Oder wie Kletten. Oder wie etwas, das die Nasa für Raumfahrtprogramme entwickelt hat.
“Vielleicht solltet ihr einen Hundefriseur ausprobieren”, schlug sie vor.
Gustav kam zum Hundefriseur zurück, als hätte er einen Wellness-Tag verbracht. Perfekt frisiert, perfekt gebürstet, perfekt duftend.
Am nächsten Morgen sah unser Wohnzimmer aus wie nach einem Fellsturm. Gustav hatte offenbar beschlossen, dass die professionelle Frisur nicht zu ihm passte, und über Nacht alles korrigiert.
“Das war Geldverschwendung”, sagte meine Frau.
“Das war ein Statement”, korrigierte ich. “Gustav mag sein natürliches Aussehen.”
Mittlerweile haben wir uns arrangiert. Unser Haus ist beige, unsere Kleidung ist beigekompatibel, und unser Staubsauger läuft im Dauerbetrieb.
Gustav ist zufrieden. Er hat unser Zuhause erfolgreich umdekoriert. Überall hängen kleine blonde Erinnerungen an ihn. Wie Fotos, nur dreidimensional und beweglich.
“Weißt du was?”, sagte ich neulich zu meiner Frau. “Andere Leute kaufen teure Kunstwerke für ihre Wände. Wir haben Gustav. Der ist wie ein lebendiger Innenarchitekt.”
“Ein sehr haariger Innenarchitekt”, korrigierte sie.
“Der beste, den wir uns leisten können.”
Gestern fand ich eines von Gustavs Haaren in meinem Kaffee. Ich war nicht mal überrascht. Das gehört inzwischen zu unserem Alltag wie Zähneputzen oder Atemholen.
“Gustav”, sagte ich zu ihm, “du hast unser Leben komplett umgestaltet.”
Gustav wedelte stolz. Seine Art zu sagen: “Gern geschehen.”
Wenn Freunde fragen, wie wir mit dem Haarproblem umgehen, sage ich: “Wir haben kein Haarproblem. Wir haben eine haarscharfe Einrichtung.”
Das ist nicht gelogen. Unser Zuhause ist einzigartig. Komplett individuell gestaltet. Von einem Experten, der weiß, was er tut.
Gustav produziert nicht nur Haare. Er produziert Atmosphäre. Warme, gemütliche, sehr blonde Atmosphäre.
Benno Böhmer lebt mit seiner Familie und Gustav in einer Reihenhaussiedlung, wo Gustav als selbsternannter Innenarchitekt dafür sorgt, dass immer etwas von ihm zu sehen ist – überall.