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Gassi oder nicht Gassi – das ist hier die Frage

Wie man einen 35-kg-Hund überredet, bei Regen das Haus zu verlassen

Es gibt Momente im Leben eines Hundebesitzers, in denen man sich fragt: Wer ist hier eigentlich der Herr und wer der Hund? Einer dieser Momente war letzte Woche, als ich eine Stunde lang versucht habe, Gustav zu überzeugen, dass Regen nicht giftig ist.

Alles begann ganz normal. Es war 18 Uhr, Gassi-Zeit, und draußen regnete es. Nicht dramatisch, nicht sintflutartig – einfach nur normaler deutscher Herbstregen. Das, was andere Menschen “Wetter” nennen.

“Gustav, komm. Gassi gehen.”

Gustav lag in seinem Körbchen und tat so, als würde er schlafen. Sehr überzeugend, bis auf die Tatsache, dass er ein Auge offen hatte und mich beobachtete.

“Gustav. Leine.”

Jetzt machte er beide Augen zu. Ich kenne diese Taktik. Das ist Gustavs Version von “Wenn ich euch nicht sehe, könnt ihr mich nicht sehen.”

Ich holte die Leine und raschelte damit. Normalerweise reicht das Geräusch der Leine, um Gustav in Begeisterungsstürme zu versetzen. Diesmal rührte er sich nicht.

“Er hört den Regen”, sagte meine Frau, die am Küchentisch saß und so tat, als würde sie arbeiten, aber in Wahrheit die Show verfolgte.

“Es sind nur ein paar Tropfen”, sagte ich zu Gustav. “Du wirst nicht schmelzen.”

Gustav öffnete ein Auge und warf mir einen Blick zu, der sagte: “Das behauptest du.”

Ich versuchte es mit Bestechung. “Gustav, wenn du jetzt mitkommst, gibt es nachher ein Leckerli.”

Keine Reaktion.

“Zwei Leckerlis?”

Gustav gähnte demonstrativ.

“Ein Stück Käse?”

Jetzt wurde er hellhörig. Käse war sein Kryptonit. Er hob den Kopf, überlegte – und legte ihn wieder hin. Die Verlockung des Käses war groß, aber die Bedrohung durch den Regen war größer.

“Papa”, sagte Clara, die vorbeiging, “warum gehst du nicht einfach ohne ihn?”

“Weil er muss”, erklärte ich. “Hunde müssen raus. Das ist ein Naturgesetz.”

“Gustav kennt keine Naturgesetze”, sagte Clara. “Gustav macht seine eigenen Gesetze.”

Sie hatte nicht unrecht. Gustav hatte in den letzten Jahren ein komplexes Regelwerk entwickelt, das ungefähr so aussah: Bei Sonnenschein ist Gassi gehen toll. Bei bewölktem Himmel ist Gassi gehen okay. Bei Wind ist Gassi gehen diskutabel. Bei Regen ist Gassi gehen eine Verletzung der Menschenrechte. Oder Hunderechte.

Ich probierte es mit Psychologie. “Gustav, schau mal.” Ich ging zur Tür und tat so, als würde ich meine Jacke anziehen. “Ich gehe jetzt allein spazieren. Ohne dich. Du verpasst alle interessanten Gerüche.”

Gustav hob den Kopf. Einen Moment lang sah es aus, als würde er nachgeben. Dann hörte er das Prasseln des Regens gegen das Fenster und schüttelte den Kopf. Tatsächlich schüttelte er den Kopf! Als würde er sagen: “Nein, danke. Ich kenne diesen Trick.”

Mats kam dazu und betrachtete die Situation. “Warum geht Gustav nicht raus?”

“Weil er keinen Regen mag”, erklärte ich.

“Warum?”

“Weil er verwöhnt ist.”

“Warum ist er verwöhnt?”

“Weil…” Ich stockte. Weil wir ihn verwöhnt haben. Wir alle. Jedes Mal, wenn es geregnet hat und Gustav nicht wollte, haben wir nachgegeben. Wir haben gewartet, bis es aufhörte. Wir haben ihm Regenkleidung gekauft, die er ignoriert hat. Wir haben ihn zu einem Diva gemacht.

“Mama”, sagte Mats zu meiner Frau, “Papa redet schon wieder mit sich selbst.”

Ich versuchte es mit Autorität. “Gustav. Komm. Jetzt. Das ist ein Befehl.”

Gustav sah mich an und gähnte. Seine Einschätzung meiner Autorität war eindeutig.

“Du könntest ihn tragen”, schlug Clara vor.

“35 Kilo? Bei Regen? Bist du verrückt?”

“Du könntest warten, bis es aufhört”, schlug meine Frau vor.

Ich schaute nach draußen. Der Himmel war grau und schwer. Das konnte Stunden dauern.

“Er muss aber”, beharrte ich. “Was ist, wenn er… wenn er mal muss?”

“Dann geht er”, sagte meine Frau. “Vertrau mir.”

Aber ich vertraute ihr nicht. Ich vertraute Gustav nicht. Ich sah schon vor mir, wie er in der Nacht ins Wohnzimmer pinkelt und am nächsten Morgen unschuldig mit dem Schwanz wedelt.

Ich probierte es mit Verkleidung. Ich zog Regenjacke und Gummistiefel an und tat so, als würde ich einen Waldspaziergang machen. “Schau mal, Gustav! Ich bin bereit für Abenteuer!”

Gustav musterte mich von oben bis unten und legte sich demonstrativ auf die Seite. Seine Botschaft war klar: “Du siehst lächerlich aus, und ich komme trotzdem nicht mit.”

In diesem Moment klingelte es an der Tür. Herr Schmidt von nebenan stand da mit seinem kleinen Terrier Fritz.

“Hallo”, sagte er. “Wir gehen Gassi. Kommt Gustav mit?”

Fritz, der ungefähr so groß ist wie Gustavs Kopf, stand da im Regen und wedelte fröhlich mit dem Schwanz. Er trug keinen Regenmantel, keine Mütze, nichts. Einfach nur Fell und gute Laune.

Gustav kam neugierig zur Tür und sah Fritz an. Fritz bellte einmal kurz, was vermutlich “Komm schon!” bedeutete.

Und dann passiert das Wunder: Gustav trat hinaus. Ohne Zögern. Ohne Leine-Zerren. Ohne Drama.
Einfach so.

Ich stand da wie versteinert. Eine Stunde Psychologie, Bestechung und Autoritätsgehabe – und alles, was es brauchte, war ein 6-Kilo-Terrier mit Mut zum Nieselregen.

Fritz trippelte fröhlich die Einfahrt hinunter, Gustav stolzierte neben ihm her, als hätte er das schon immer so gemacht. Ich folgte den beiden, noch im Schockzustand, während meine Frau mir hinterherrief: „Vielleicht solltest du dir ein Beispiel an Fritz nehmen!“

Auf halber Strecke blieb Gustav kurz stehen, schüttelte sich und sah zu Fritz, als wolle er sagen: „Okay, das ist gar nicht so schlimm. Aber erzähl’s bitte niemandem.“

Und so gingen wir zu dritt weiter – ich pitschnass, Fritz gut gelaunt, Gustav mit der Haltung eines Hundes, der eine große innere Hürde überwunden hat.

Bis wir wieder zu Hause waren, hatte sich der Regen sogar gelegt. Gustav schüttelte sich, trottete ins Wohnzimmer und legte sich seufzend ins Körbchen – zufrieden, als hätte er gerade den Mount Everest bestiegen.

Ich gab ihm ein Stück Käse. Nicht, weil er es verdient hatte. Sondern weil ich wusste, dass ich den Kampf um den Regen ohnehin schon längst verloren hatte.

Benno Böhmer lebt mit seiner Familie und Gustav in einer Reihenhaussiedlung, wo mittlerweile unklar ist, wer von den Bewohnern tatsächlich erwachsen ist.

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