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Gustavs Diät und andere Märchen

Warum es einfacher ist, ein Kind zu überzeugen, Gemüse zu essen, als einen Labrador von der Leberwurst wegzulocken

Es gibt Momente im Leben eines Familienvaters, in denen man sich fragt: Wie konnte es soweit kommen? Einer dieser Momente war letzte Woche, als ich mich dabei erwischte, wie ich mit einem 35-Kilo-Labrador über die Vorzüge von Karotten diskutierte. Ernsthaft diskutierte. Mit Argumenten und allem.

“Gustav”, sagte ich und hielt ihm eine Möhre hin, “das ist gesund. Vitamine. Ballaststoffe. Alles, was du brauchst.”

Gustav sah mich an mit diesem Blick, den nur Labradore hinbekommen. Dieser Blick sagt: “Netter Versuch, aber wo ist die Leberwurst?”

Die Sache ist die: Gustav muss abnehmen. Das hat die Tierärztin gesagt. Nicht höflich angedeutet. Nicht vorsichtig vorgeschlagen. Sondern mit der Direktheit einer Durchsage am Bahnhof verkündet: “Ihr Hund ist zu dick.”

“Wie dick?”, fragte ich, als könnte die Antwort irgendwie besser werden.

“Fünf Kilo zu viel. Mindestens.”

Fünf Kilo! Bei einem Menschen wäre das ein ambitioniertes Neujahrsziel. Bei Gustav ist das ein mittlerer Dachschaden.

Meine Frau, die bei solchen Terminen immer mitkommt, weil sie ahnt, dass ich allein wichtige Informationen vergesse (was stimmt), notierte sich alles sorgfältig. “Diätfutter”, schrieb sie auf. “Mehr Bewegung. Weniger Leckerlis.”

“Weniger Leckerlis” – das war der Moment, in dem Gustav aufhörte, ein normaler Hund zu sein, und zu einem Märtyrer wurde.

Zuhause verkündete ich der Familie die neue Weltordnung: “Gustav macht Diät. Das bedeutet: keine Reste mehr unter dem Tisch, keine Leckerlis zwischendurch, und definitiv keine Leberwurst mehr.”

“Aber Leberwurst ist doch Gustavs Lieblings—”, begann Mats.

“WAR”, unterbrach ich. “War seine Lieblingssache. Jetzt sind Karotten seine Lieblingssache.”

Gustav, der das Wort “Leberwurst” gehört hatte, kam angerannt und sah mich erwartungsvoll an. Sein Schwanz wedelte so heftig, dass ich Angst hatte, er würde abheben.

“Nein, Gustav. Karotte.” Ich hielt ihm das orange Gemüse hin wie einen Friedensvertrag.

Gustav beschnüffelte die Karotte. Dann sah er mich an. Dann die Karotte. Dann wieder mich. Schließlich ging er weg. Einfach weg. Als hätte ich ihm eine Beleidigung angeboten.

“Vielleicht mag er Äpfel lieber?”, schlug Clara vor, die zwischen Handy und Gespräch hin und her wechselte, wie Teenager das können.

“Äpfel haben zu viel Zucker”, erklärte ich fachmännisch. Ich hatte nämlich gegoogelt. Stundenlang. “Hunde-Diät” hat 4,7 Millionen Suchergebnisse. Ich kenne sie alle.

“Gurke dann?”, fragte Mats.

“Gurke ist gut”, bestätigte ich und fühlte mich wie ein Ernährungsexperte. “Wenig Kalorien, viel Wasser.”

Gustav kam zurück in die Küche, vermutlich angelockt von unserer Diskussion über Gemüse. Er blieb vor seinem Napf stehen und starrte das neue Diätfutter an, als wäre es ein Rätsel, das er lösen müsste.

Das Diätfutter sah aus wie braune Steinchen. Laut Packung sollte es “köstlich nach Huhn und Reis” schmecken. Gustav war anderer Meinung. Er stupste ein paar Brocken mit der Nase an und ging wieder weg.

“Er hungert”, stellte Mats fest.

“Er schmollt”, korrigierte meine Frau. “Das ist ein Unterschied.”

Nach drei Tagen Hungerstreik wurde Gustav kreativ. Ich erwischte ihn dabei, wie er den Mülleimer durchsuchte. Systematisch und gründlich, wie ein Archäologe auf einer wichtigen Ausgrabung.

“Gustav! Nein!”

Er sah auf, einen Joghurtbecher am Maul, und der Blick sagte: “Du zwingst mich zu verzweifelten Maßnahmen.”

Am vierten Tag versuchte Gustav, Claras Schulbrot zu stehlen. Nicht heimlich, wie sonst. Sondern offen, direkt vom Küchentisch. Eine Verzweiflungstat.

“Papa”, sagte Clara anklagend, “Gustav wird kriminell wegen der Diät.”

Sie hatte nicht unrecht. Gustav entwickelte Strategien, die bei Erziehungsratgebern unter “manipulatives Verhalten” stehen würden. Er setzte sich vor den Kühlschrank und starrte ihn an. Stundenlang. Als könnte er ihn durch reine Willenskraft öffnen.

“Das ist psychischer Terror”, sagte meine Frau.

“Das ist Hunger”, sagte ich. “Er gewöhnt sich dran.”

Aber Gustav gewöhnte sich nicht dran. Er wurde schlauer. Er lernte, dass das Wort “Karotte” nichts Gutes bedeutete, und verließ den Raum, sobald ich es aussprach. Er lernte, dass das Rascheln der Diätfutter-Packung kein Grund zur Freude war. Und er lernte, dass seine Menschen offenbar verrückt geworden waren.

Der Wendepunkt kam in der zweiten Woche. Ich saß am Küchentisch und versuchte, Gustav mit einem Stück Brokkoli zu überzeugen. Ja, Brokkoli. Ich war verzweifelt.

“Gustav, schau. Brokkoli ist wie ein kleiner Baum. Du kannst so tun, als wärst du ein Dinosaurier.”

Meine Frau kam dazu und blieb stehen. “Redest du gerade mit dem Hund über Rollenspiele?”

“Ich versuche, ihm Gemüse schmackhaft zu machen.”

“Mit Fantasie?”

“Mats isst auch Brokkoli, wenn ich sage, er ist ein kleiner Baum!”

“Mats ist sieben. Gustav ist ein Hund.”

In diesem Moment wurde mir klar: Ich war tatsächlich verrückt geworden. Aber das Verrückte war: Es funktionierte bei Mats! Er aß Brokkoli-Bäume, Karotten-Raketen und Gurken-Uhus. Bei Gustav funktionierte gar nichts. Er blieb bei seinem Standpunkt: Gemüse ist keine Nahrung.

“Okay”, sagte ich zu Gustav. “Neuer Deal. Du bekommst jeden Tag eine kleine Belohnung, wenn du dein Diätfutter aufisst.”

Gustav horchte auf. Das Wort “Belohnung” hatte er verstanden.

“Ein winziges Stück Käse”, präzisierte ich.

Gustav überlegte. Ich konnte es sehen. Seine Augen wurden schmal, wie die eines Pokerspielers, der seine Karten prüft. Dann ging er zu seinem Napf und aß. Nicht begeistert, aber er aß.

“Das ist Erpressung”, sagte Clara.

“Das ist Verhandlung”, korrigierte ich. “So funktioniert das Leben.”

Nach vier Wochen hatte Gustav tatsächlich abgenommen. Zwei Kilo. Die Tierärztin war zufrieden. Gustav war… Gustav war ein anderer Hund. Schlanker, agiler, und vermutlich traumatisiert vom Gemüse-Terror.

Aber das Beste war: Mats hatte angefangen, Gemüse zu essen. Richtig zu essen. Ohne Diskussion. Ohne Überredung. Einfach so.

“Warum isst du plötzlich freiwillig Möhren?”, fragte ich ihn.

“Wenn Gustav das kann”, sagte er grinsend, “kann ich das auch.”

Und da war es wieder. Dieses Gefühl, dass in unserem Haushalt der Hund der bessere Erzieher ist als die Eltern. Gustav hatte nicht nur abgenommen – er hatte Mats beigebracht, dass man manchmal Dinge tun muss, die man nicht mag.

Heute bekommen beide ihre Belohnung: Gustav ein winziges Stück Käse, Mats ein extra Bonbon. Und ich habe gelernt: Manchmal muss man mit einem Hund über Brokkoli-Bäume reden, um zu verstehen, wie Erziehung funktioniert.

Allerdings verstecke ich die Leberwurst immer noch. Manche Versuchungen sind zu groß. Für Gustav. Und ehrlich gesagt: auch für mich.

Benno Böhmer lebt mit seiner Familie und Gustav in einer Reihenhaussiedlung, wo der Hund inzwischen zwei Kilo leichter ist und die Kinder freiwillig Gemüse essen. Manchmal ist das Leben doch gerecht.

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