
Wenn Hunde pubertieren könnten, würden sie Gustav heißen
Über Hunde, Hormone und Teenager, die beide nicht hören
Manchmal sitze ich am Küchentisch und beobachte meine Familie beim Frühstück. Rechts von mir Clara, 13 Jahre alt, die so tut, als würde sie mich nicht hören, wenn ich sage: “Räum dein Zimmer auf.” Links von mir Gustav, der so tut, als würde er mich nicht hören, wenn ich sage: “Sitz.”
Und dann dämmert es mir: Ich lebe nicht mit einem Hund und einem Teenager zusammen. Ich lebe mit zwei pubertierenden Lebewesen zusammen, von denen eines zufällig vier Beine hat.
Die Ähnlichkeiten sind verblüffend. Nehmen wir das Thema “Hören”. Clara hört ausschließlich das, was sie hören will. Rufe ich “Clara, Abendessen!”, herrscht Funkstille. Flüstere ich meiner Frau zu “Vielleicht sollten wir Clara das neue Handy doch nicht kaufen”, steht sie binnen Sekunden vor mir und führt eine 20-minütige Verhandlung über ihre Handyrechte.
Gustav funktioniert genauso. Sage ich “Gustav, komm her”, passiert nichts. Raschle ich mit der Käsepackung, materialisiert er sich aus dem Nichts wie ein übergewichtiger Ninja.
“Das ist selektive Wahrnehmung”, erklärt meine Frau, die immer wissenschaftliche Begriffe für das hat, was ich “komplette Ignoranz” nenne.
“Das ist Rebellion”, sage ich. “Pure Rebellion.”
Neulich testete ich meine Theorie. Ich stand im Wohnzimmer und rief: “Clara, könntest du bitte den Müll rausbringen?”
Keine Reaktion. Clara blieb auf dem Sofa liegen und starrte auf ihr Handy, als würde sie das Geheimnis des Universums entschlüsseln.
“Gustav, könntest du bitte den Müll rausbringen?”
Gustav hob den Kopf, sah mich an und legte ihn wieder hin. Nicht mal ein Ohr zuckte.
“Seht ihr?”, sagte ich zu meiner Frau. “Beide haben die gleiche Reaktion auf Haushaltsaufgaben.”
“Du redest mit dem Hund über Müll”, sagte sie trocken. “Vielleicht solltest du mal überlegen, wer hier das Problem hat.”
Aber es geht weiter. Beide, Clara und Gustav, haben Phasen, in denen sie völlig unberechenbar sind. Clara kann morgens aufstehen und fröhlich “Guten Morgen, Papa!” sagen. Oder sie kann aufstehen und mich anschauen, als hätte ich persönlich ihr Leben ruiniert, indem ich existiere.
Gustav ist genauso. Manchmal begrüßt er mich nach der Arbeit, als wäre ich von einem jahrelangen Krieg zurückgekehrt. Manchmal liegt er da und hebt nicht mal den Kopf, als würde er denken: “Ach, der wieder.”
“Das sind Stimmungsschwankungen”, erklärt meine Frau. “Bei Clara sind es Hormone. Bei Gustav ist es…” Sie überlegt. “Charakter?”
“Bei Gustav sind es auch Hormone”, behaupte ich. “Hundehormone. Oder so.”
Meine Frau googelt. “Hunde haben keine Pubertät.”
“Dann erkläre mir Gustavs Verhalten der letzten Woche.”
Letzte Woche war nämlich besonders schlimm. Gustav hatte beschlossen, dass Regeln etwas für andere sind. Er ging nicht an die Leine. Er kam nicht, wenn ich ihn rief. Er schlief auf dem Sofa, obwohl das verboten ist. Und wenn ich ihn ermahnte, sah er mich an mit diesem Blick, der sagte: “Was willst du dagegen tun?”
Genau den gleichen Blick macht Clara, wenn ich ihr sage, dass sie vor 22 Uhr ins Bett soll.
“Das ist kein Zufall”, sage ich zu Mats, unserem Siebenjährigen, der als Einziger noch normal funktioniert. “Clara und Gustav sind beide in der Pubertät.”
“Gustav ist ein Hund”, sagt Mats.
“Details”, winke ich ab.
Der Höhepunkt kam am Wochenende. Ich wollte mit Gustav Gassi gehen. Er weigerte sich, seine Leine anzulegen. Nicht aggressiv, sondern mit der passiven Resistenz eines Demonstranten.
“Gustav, komm. Leine.”
Gustav blieb liegen. Bewegungslos. Als wäre er plötzlich gelähmt.
Zeitgleich rief ich Clara: “Clara, wir fahren zu Oma. Zieh dich an.”
“Ich will nicht zu Oma”, kam es vom Sofa.
“Du kommst trotzdem mit.”
“Nein.”
Clara blieb liegen. Bewegungslos. Als wäre sie plötzlich gelähmt.
“Siehst du?”, sagte ich zu meiner Frau. “Beide verweigern Aktivitäten, die sie nicht wollen. Beide nutzen die gleiche Taktik. Das ist Pubertät.”
“Das ist Sturheit”, sagte sie. “Und die ist altersunabhängig.”
Aber dann passierte etwas Interessantes. Ich setzte mich zwischen Clara und Gustav auf den Boden und seufzte theatralisch. “Na gut. Dann bleiben wir alle zu Hause. Ich wollte eigentlich Eis essen gehen, aber wenn ihr nicht wollt…”
Clara war sofort hellwach. “Eis?”
Gustav sprang auf. Er kannte das Wort “essen” in allen Variationen.
“Aber nur, wenn wir alle zusammen gehen”, sagte ich. “Clara zu Oma, Gustav Gassi.”
Binnen fünf Minuten waren beide startklar. Clara angezogen, Gustav an der Leine. Wie durch ein Wunder.
“Das war Manipulation”, sagte meine Frau anerkennend.
“Das war Erziehung”, korrigierte ich. “Bei Pubertierenden muss man kreativ werden.”
Seitdem behandle ich Gustav wie einen pubertierenden Teenager. Ich verhandle mit ihm. Ich biete Kompromisse an. Ich erkenne seine Autonomie an, setze aber klare Grenzen.
Und es funktioniert! Gustav hört wieder – zumindest meistens. Genau wie Clara – zumindest meistens.
“Du weißt schon, dass Gustav kein Teenager ist?”, sagt meine Frau.
“Du weißt schon, dass Clara kein normaler Mensch ist?”, kontere ich. “Trotzdem behandeln wir sie wie einen.”
Gestern beobachtete ich, wie Clara und Gustav nebeneinander auf dem Sofa lagen. Beide starrten in die Luft. Beide ignorierten mich völlig. Beide hatten diesen Gesichtsausdruck, der sagte: “Die Welt versteht mich nicht.”
“Die pubertieren beide”, sagte ich zu Mats.
“Papa”, sagte Mats geduldig, “Gustav ist ein Hund.”
“Und Clara ist ein Teenager. Wo ist der Unterschied?”
Mats überlegte. “Clara kann sprechen.”
“Gustav auch. Nur anders.”
In diesem Moment bellte Gustav. Clara sagte: “Ey, lass mich in Ruhe.”
“Siehst du?”, sagte ich zu Mats. “Beide haben gerade das Gleiche gesagt.”
Heute Morgen probierte ich ein Experiment. Ich sagte zu Clara: “Könntest du bitte dein Zimmer aufräumen?” Gleichzeitig sagte ich zu Gustav: “Könntest du bitte auf deinen Platz gehen?”
Beide sahen mich an. Beide seufzten. Beide gingen weg, ohne zu gehorchen.
“Das”, sagte ich zu meiner Frau, “ist der eindeutige Beweis. Gustav ist ein pubertierender Teenager im Hundekörper.”
“Oder”, sagte sie, “Clara ist ein Hund im Teenagerkörper.”
“Das”, sagte ich, “erklärt sogar noch mehr.”
Am Abend lagen Clara und Gustav wieder nebeneinander auf dem Sofa. Diesmal aber friedlich. Clara kraulte Gustav hinter den Ohren. Gustav wedelte entspannt mit dem Schwanz.
“Vielleicht”, sagte meine Frau, “verstehen sie sich so gut, weil sie ähnlich sind.”
“Beide pubertieren”, bestätigte ich.
“Beide sind stur, eigenwillig und charmant”, korrigierte sie. “Genau wie ihr Vater.”
Das war gemein. Aber vermutlich hatte sie recht. Wenn Gustav pubertiert, dann pubertiere ich auch. Schließlich werde ich jeden Tag trotziger, wenn es darum geht, die Spülmaschine auszuräumen.
Benno Böhmer lebt mit seiner Familie und Gustav in einer Reihenhaussiedlung, wo mittlerweile unklar ist, wer von den Bewohnern tatsächlich erwachsen ist.