> HundeMeinungMensch & Tier

Schulbrot vs. Hundeschnauze

Warum Gustav regelmäßig die Brotdose der Erstklässler leert – und Mats dafür Applaus bekommt

Es begann mit einem Lob. “Mats isst jetzt immer sein ganzes Schulbrot auf!”, verkündete meine Frau stolz beim Abendessen. “Seine Brotdose ist jeden Tag komplett leer.”

Ich war beeindruckt. Mats war noch nie ein großer Fan von Vollkornbrot mit Gurke und Tomate gewesen. Eher ein Fan von allem, was Zucker, Schokolade oder wenigstens eine E-Nummer enthielt.

“Toll, Mats!”, sagte ich anerkennend. “Du wirst richtig vernünftig.”

Mats grinste und sagte nichts. Im Nachhinein hätte mich dieses Grinsen stutzig machen müssen. Es war nicht das Grinsen eines Kindes, das stolz auf seine gesunde Ernährung ist. Es war das Grinsen eines Siebenjährigen, der ein Geheimnis hat.

Die nächsten Wochen liefen perfekt. Jeden Tag kam Mats mit leerer Brotdose nach Hause. Meine Frau war begeistert. “Endlich ein Kind, das versteht, wie wichtig gesunde Ernährung ist!”

Ich fing sogar an, anderen Eltern davon zu erzählen. “Unser Mats isst neuerdings immer sein ganzes Schulbrot. Vollkorn mit Gemüse. Freiwillig!”

Die anderen Eltern sahen mich an, als hätte ich ihnen erzählt, dass mein Kind freiwillig sein Zimmer aufräumt und dabei noch singt.

Dann fiel mir etwas auf. Gustav wartete jeden Mittag ungeduldig an der Haustür, wenn Mats aus der Schule kam. Nicht das normale “Hallo, schön dass du da bist”-Warten. Sondern ein erwartungsvolles, fast geschäftsmäßiges Warten.

Und noch etwas: Gustav war in letzter Zeit deutlich weniger interessiert an seinem eigenen Futter. Für einen Labrador, der normalerweise seinen Napf ansieht, als wäre es das achte Weltwunder, war das ungewöhnlich.

“Gustav frisst nicht mehr so viel”, sagte ich zu meiner Frau.

“Vielleicht ist er krank?”, sorgte sie sich.

“Oder er bekommt woanders was zu essen”, murmelte ich.

Das war der Moment, in dem ich beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.

Am nächsten Tag versteckte ich mich hinter der Wohnzimmertür und beobachtete, was passierte, wenn Mats von der Schule kam.

Mats öffnete die Haustür. Gustav kam angerannt wie ein Geschäftspartner zu einem wichtigen Termin.

“Hallo, Gustav!”, sagte Mats fröhlich und klopfte seine Schultasche ab.

Gustav setzte sich erwartungsvoll vor ihn hin. Sein Schwanz wedelte, aber das war kein normales Freude-Wedeln. Das war ein “Wo ist mein Zeug?”-Wedeln.

Mats öffnete seine Brotdose. Sie war voll. Vollkornbrot mit Gurke, ein Apfel, Karottensticks. Genau das, was meine Frau jeden Morgen liebevoll eingepackt hatte.

“So, Gustav”, sagte Mats geschäftsmäßig. “Heute gibt’s Vollkorn mit extra Gurke.”

Und dann passierte es: Mats kippte den kompletten Inhalt seiner Brotdose vor Gustav auf den Boden.

Gustav stürzte sich auf das Festmahl wie ein Mann, der eine Woche nichts gegessen hat. Binnen zwei Minuten war alles verschwunden. Brot, Apfel, Karotten – alles.

Mats klappte seine leere Brotdose zu und rief: “Mama! Ich bin da! Und schau mal – meine Brotdose ist wieder leer!”

Meine Frau kam aus der Küche und strahlte. “Oh, wie toll! Du isst wirklich immer alles auf!”

“Ja”, sagte Mats stolz. “Ich mag Schulbrot jetzt total gern.”

Gustav leckte sich die Lippen und trottete zufrieden zu seinem Körbchen.

Ich stand hinter der Tür und hatte eine Offenbarung. Mein siebenjähriger Sohn hatte ein perfektes System entwickelt: Er bekam Lob für gesunde Ernährung, ohne auch nur einen Bissen davon essen zu müssen. Gustav bekam zusätzliches Futter und war glücklich. Und meine Frau war stolz auf ihren vernünftigen Sohn.

Alle waren zufrieden. Außer mir.

Am Abend nahm ich Mats zur Seite. “Mats, ich muss dir was sagen.”

“Was denn, Papa?”

“Ich weiß, was mit deinem Schulbrot passiert.”

Mats erstarrte. Sein Gesicht wurde rot. “Was… was meinst du?”

“Gustav isst dein Schulbrot. Du gibst es ihm, und dann tust du so, als hättest du es selbst gegessen.”

Mats war erwischt. Aber anstatt zu weinen oder sich zu entschuldigen, sagte er: “Das ist doch gut für Gustav. Er mag Vollkornbrot.”

“Mats, das ist Betrug.”

“Wieso? Gustav wird satt, Mama ist glücklich, und ich muss kein Vollkornbrot essen. Alle gewinnen.”

Ich musste zugeben: Die Logik war bestechend. Ein Siebenjähriger hatte eine Win-Win-Win-Situation geschaffen.

“Aber Mama denkt, du wirst gesund ernährt”, sagte ich.

“Ich esse zu Hause gesund”, verteidigte sich Mats. “Mittags esse ich Nudeln in der Schulkantine. Das ist auch gesund.”

“Nudeln mit Ketchup sind nicht gesund.”

“Besser als Vollkornbrot mit Gurke.”

Touché.

Ich stand vor einem Dilemma. Sollte ich das System aufdecken und drei zufriedene Familienmitglieder unglücklich machen? Oder sollte ich schweigen und bei der Illusion mitmachen?

“Papa”, sagte Mats und sah mich mit großen Augen an. “Sagst du’s Mama?”

Ich schaute ihn an. Dann schaute ich zu Gustav, der zufrieden in seinem Körbchen lag. Dann dachte ich an meine Frau, die so stolz auf Mats’ neue Essgewohnheiten war.

“Unter einer Bedingung”, sagte ich schließlich.

“Welcher?”

“Du probierst wenigstens jeden Tag ein Stück von deinem Schulbrot. Einen kleinen Bissen.”

Mats überlegte. “Okay. Deal.”

Wir schüttelten Hände wie zwei Geschäftspartner.

Seitdem ist Mats tatsächlich gesünder geworden. Er probiert jeden Tag ein winziges Stück seines Schulbrots, bevor er den Rest an Gustav verfüttert. Gustav ist der glücklichste Hund der Welt, weil er täglich ein Zusatz-Menü bekommt. Und meine Frau ist stolz auf ihren Sohn, der “immer sein ganzes Schulbrot aufisst”.

“Manchmal”, sagte ich neulich zu Gustav, “sind die besten Lösungen die, bei denen alle ein bisschen schummeln.”

Gustav wedelte zustimmend. Er ist der einzige in der Familie, der bei diesem System nicht schummelt. Er isst ehrlich jedes Stück Vollkornbrot auf.

Gestern kam Mats mit seiner leeren Brotdose nach Hause und verkündete stolz: “Mama, ich hab sogar den Apfel gegessen!”

Meine Frau war begeistert. Ich grinste. Gustav leckte sich die Lippen.

“Das ist Teamwork”, flüsterte ich Gustav zu.

Gustav wedelte. Seine Art zu sagen: “Beste Geschäftspartnerschaft meines Lebens.”

Neulich fragte mich ein anderer Vater: “Wie hast du deinen Sohn dazu gebracht, Vollkornbrot zu mögen?”

“Geduld”, sagte ich. “Und die richtige Motivation.”

Ich erwähnte nicht, dass die Motivation ein übergewichtiger Labrador mit chronischem Hunger war.

Manche Familiengeheimnisse sind zu schön, um sie zu verraten.

Benno Böhmer lebt mit seiner Familie und Gustav in einer Reihenhaussiedlung, wo Gustav inzwischen eine bessere Schulverpflegung hat als die meisten Erstklässler – und alle dabei glücklich sind.

Teilen