
Woran erkenne ich eine Führungspersönlichkeit?
“Es ist wieder passiert! Sunny ist, wie so oft, komplett ausgeflippt, als ein Besucher zur Tür hereinkam. Blitzschnell verwandelte sie sich von einem Schmusehund in einen gefährlichen Angreifer, dessen einziger Wunsch es war, diesen unliebsamen Besucher loszuwerden.” In ihrem Buch “Follow Me” erklärt Hundetrainerin Radana Kuny, wie man zum Rudelführer wird.
Laut bellend stürmte sie auf ihn zu und schnappte warnend in die Luft.
Und was tat Sabine? Nichts! Sie stand einfach nur da. Eingefroren, am ganzen Körper wie gelähmt, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Hilflosigkeit fühlt sich furchtbar an. Dieses extreme Verhalten begann, als Sunny ca. 9 Monate alt war. Ab diesem Alter verhielt sie sich generell aggressiv anderen Menschen gegenüber und biss sogar zu, wenn sie jemand anfassen wollte. Nur ihre eigene Familie durfte sie streicheln. Gott sei Dank war sie ein kleiner Mischling und konnte somit niemanden ernsthaft verletzen.
Dieses zerstörerische Verhalten wurde Sunny unbewusst antrainiert.
Als Welpe war sie zum Herzerweichen, ein zuckersüßes kleines Wollknäuel und bei ihrem Anblick schmolzen alle regelrecht dahin. Und wirklich jeder wollte sie anfassen und auf den Arm nehmen. Auch in solchen Situationen war Sabine wie gelähmt und nicht in der Lage, sie vor hysterischen Menschen zu beschützen, die sich regelrecht auf sie stürzten. Hilflos sah sie zu, wie andere ihren Hund für ihr eigenes Wohlgefühl benutzten. Dieses übergriffige Verhalten empfand Sunny als einen körperlichen Angriff, der ihr große Angst machte. Ihre Panik zeigte sie deutlich, indem sie vor jedem Fremden zurückwich, sich klein machte, sich hinter Sabine versteckte oder versuchte, sich aus dem Staub zu machen.
Leider wurde das komplett ignoriert, oder kommentiert im Sinne von: „Du brauchst doch keine Angst vor mir haben!“ Diese Aussage ist genauso paradox, als würde ich jemandem mit einer Spinnenphobie erklären, dass er sich vor der Spinne nicht fürchten muss. Angst ist keine bewusste Entscheidung, sondern eine Reaktion auf etwas oder jemanden und bei Sunny wäre es viel klüger gewesen, dass Sabine fremde Menschen angeleitet hätte, ihr distanziert, fast ignorant zu begegnen. Dadurch hätte Sunny gelernt, dass die Angst nicht notwendig ist, da man sie in Ruhe lässt. Denn solange sich die Menschen ihr gegenüber distanzlos verhielten, musste sie Angst vor ihnen haben. Da ihr niemand half, blieb ihr nichts anderes übrig, als mit der Zeit zu lernen, sich selbst zu verteidigen. Und das tat sie mit großem Erfolg. Sie biss zu und sorgte dafür, dass sie niemand mehr unerlaubt anfasste. So schnell wurde aus einem ach so schnuckeligen Hund eine bissige Bestie, die niemand mehr süß fand.
Sabine musste beruflich für ein paar Tage verreisen und war wirklich verzweifelt. Wohin nur mit Sunny?
Mit ihrem Aggressionsthema kam eine Hundepension nicht in Frage. Sie bat mich um Hilfe, da ich die Einzige war, der sie es zutraute, sich um Sunny zu kümmern. Natürlich ließ ich Sabine nicht im Stich und Sunny durfte für ein paar Tage bei mir und meinen Hunden einziehen.
Da Sunny erst seit kurzem bei mir in der Hundeschule war, kam es im Training nie heraus, dass es auch noch andere Probleme mit ihr gibt. Somit ging ich davon aus, dass ansonsten alles in Ordnung ist. Sicher können Sie sich meine Überraschung vorstellen, als mich Sabine ausdrücklich davor warnte, mit Sunny in die Nähe einer stark befahrenen Straße zu gehen. Sie verbot es mir regelrecht, da anscheinend schon der Anblick von schnell fahrenden Autos reicht, um Sunny hemmungslos hochgehen zu lassen. Da habe ich mich ja auf was eingelassen!
In den Tagen, die Sunny bei mir zu Gast war, verliebte ich mich Hals über Kopf in die kleine Maus, und das, obwohl ich ein Fan von großen Hunden bin.
Sie war ein wunderbarer Hund. Voller Freude orientierte sie sich an mir und meinen eigenen drei Vierbeinern. Stundenlang ließ sie sich von meinem Sohn und einigen seiner Freunde krabbeln. Sicher denken Sie jetzt, dass das ein Wunder ist – oder? Nein, es war kein Wunder, sondern einfach nur der höfliche Umgang mit ihr. Keiner ging auf sie zu, geschweige denn zwang sie zu einem Körperkontakt. Sie selbst durfte entscheiden, zu wem sie wollte und erst, wenn sie deutlich den Wunsch äußerte, gestreichelt zu werden, wurde sie berührt. Und was das Thema Autos betrifft – die waren ihr schlicht und einfach ausgedrückt, schnurzpiepegal!
An lockerer Leine lief sie schwanzwedelnd neben mir an jeder Straße vorbei. Als Sabine sie wieder abholte, konnte sie das alles nicht glauben. Sie bestand sogar drauf, mit uns an eine stark befahrene Straße zu gehen, um mir zu zeigen, wie Sunny wirklich ist. Und tatsächlich! Sobald sie jetzt ein Auto von weitem sah, verwandelte sie sich in eine tobende Bestie. Es war so, als hätte man den Hund ausgetauscht, den ich in den Tagen bei mir kennengelernt hatte. Dann übernahm ich die Schlaufe der Hundeleine und innerhalb von Sekunden entdeckte ich „meine“ Sunny wieder. Nichts regte sie mehr auf. Sie orientierte sich an mir, die Leine schwang in einem entspannten Bogen zwischen uns, ihre Augen suchten Blickkontakt. Das Gesicht von Sabine? Werde ich nie vergessen!
Warum hatte sich Sunny bei mir komplett anders verhalten?
Wie konnte es sein, dass sie sich innerhalb von einigen Minuten verwandelt hatte? Die Situation war doch nach wie vor dieselbe? Nicht ganz. Eine Komponente hatte sich geändert. Der Mensch am Ende der Leine.
Grund genug, uns das genauer anzuschauen. Was machte Sabine anders? Sie gab Sunny keine Führung. Sobald sich ein Auto näherte, rechnete sie schon damit, sah es regelrecht vor ihrem geistigen Auge, wie Sunny ausflippt.
Sie zeigte ein deutliches Unwohlsein, hatte selbst Stress, was für Sunny bedeutete, dass Sabine diejenige ist, die panische Angst vor Autos hat. Durch ihre vermeintliche Schwäche fühlte sich Sunny für sie verantwortlich und versuchte, sie verzweifelt vor jedem Auto zu beschützen. Auch mit Erfolg, denn schließlich fuhren sie weiter und Sabine überlebte. Das stresste sie natürlich entsetzlich. Bei mir konnte sie Verantwortung abgeben. Sie spürte, da ist jemand, der alles regelt. Mein ruhiges Verhalten zeigte ihr, dass ich selbst fähig bin, es mit jedem Auto aufzunehmen. Dass ich nicht nur mich, sondern auch sie beschützen kann. Sie erkannte, dass ich Autos super finde, da ich mich sehr wohl bei ihrem Anblick fühle. So konnte sie sich entspannen, da sie begriff, dass es meine Sache war, sich um Bedrohungen zu kümmern.
Autos? Nicht länger ihr Problem.
Was haben Sabine und ich, bis auf unsere unterschiedliche innere Handlung, äußerlich in unserem Verhalten anders gemacht? Ein Beobachter hätte gesehen, wie Sabine sich die Leine von Sunny zweimal ums Handgelenk wickelte, um sich sicher zu fühlen. Ihre Bewegungen waren hektisch. Bei jedem sich nähernden Fahrzeug versteifte ihr Körper, sie zog ihre Schultern hoch. Ich konnte ihr deutlich ansehen, wie sie sich fühlte. Wenn ich als Mensch das kann, um wie viel besser witterte Sunny mit ihren feinen Hundeantennen, was in ihrem Frauchen vorging? Hunde können Stresshormone wie Adrenalin und Noradrenalin riechen und in Sabines Innerem rasten diese Hormone wie auf einer Achterbahn kreuz und quer umher. Sunny übernahm die Führung und zog Sabine Richtung Straße. Sie stellte jedes Auto und bellte es heftig an. Ich garantiere Ihnen, würde es einen „Bell-Übersetzer“ geben, der an ihrem Halsband befestigt wäre, würde dieser tönen: „Verschwindet hier!“
Sabine mühte sich ab, die Leine festzuhalten und Sunny zu sich zu ziehen.
Mit überschlagender Stimme gab sie verschiedene Kommandos wie „Aus“, „Hier zu mir“ und „Bei Fuß“. Je lauter sie wurde, desto heftiger verhielt sich Sunny. Aus ihrer Sicht verbellte Sabine auch die Autos. Und je mehr sie bellte und in die Leine stieg, desto höher wurde Sabines Stimme. Je höher unsere Stimme wird, umso mehr ist die Panik in ihr zu erkennen. Ein Teufelskreis, aus dem ich die beiden schnell erlöste. Ich langte nach der Leine und Sunny entspannte sich sichtbar. Ich führte sie auf meine rechte, sichere Seite (weg von der Straße). Die Leine hielt ich zwar kurz, jedoch locker in der Hand. Mein Körper war aufrecht und ich war innerlich in großer Ruhe. Mein Atem war ruhig und tief, was immer ein Zeichen von innerer Stärke und Gelassenheit ist. So etwas kann man als Mensch trainieren, damit man es in beliebigen Situationen abrufen kann. Jedes Mal, wenn sich uns ein Auto näherte, wendete ich mich in einer winzigen Bewegung mit der Schulter weg vom Auto und hin zu Sunny.
Sobald sie ein Fahrzeug anschaute, kam ein Abbruchsignal von mir.
Das war ein kurzer Laut. Lenkte sie aber ihre Aufmerksamkeit zu mir, lobte ich sie verbal. Das machte ich mit einem sanften, weichen Brummen. Es klingt wie ein gesummtes „Hmmm“, ein Wohlfühlgeräusch. Instinktiv machen wir es, wenn wir etwas Leckeres essen oder eine Massage genießen. So zeigte ich ihr, dass uns die Fahrzeuge nicht zu interessieren haben, sie mich nicht stressen und ich mich unglaublich wohl fühle, wenn sie mir folgt. Durch dieses wiederholende Verhalten von mir erkannte Sunny, dass Autos unwichtig sind und keine Bedrohung darstellen. Für niemanden.
Auf diese Art erklärte ich ihr in kleinen Schritten, was ich von ihr wollte. Auto fixieren? Nein. Sich von ihnen abwenden? Ja. Sich mir zuwenden? Jaaaa! Diese Klarheit vermittelte ihr ein Gefühl der Geborgenheit. Die Grundvoraussetzung, um sich zu entspannen. Natürlich war es nicht nur eine Momentaufnahme. In den Tagen zuvor, als Sunny mein Gast war, hatte sie gelernt, dass sie 24 Stunden am Tag bei mir in Sicherheit ist und sie mir bedingungslos vertrauen kann. In den kommenden Monaten erkannte Sabine, wie wundervoll ihr Hund war. Sunny fing in dem Moment an, sich positiv zu wandeln, als Sabine bewusst wurde, dass sie an sich und weniger am Hund arbeiten musste.
Sie entwickelte sich schrittweise zu einer stabilen Führungspersönlichkeit.
Und Sunny hing an ihren Lippen, suchte den Kontakt ihrer Augen, blühte auf und wurde fröhlich. Autos sind heute kein Thema mehr und Sabine hat gelernt, Menschen auf Abstand zu halten, die Sunny nicht mag. Mit den meisten Menschen gibt es keine Probleme, vorausgesetzt sie bedrängen sie nicht, sondern fassen sie nur dann an, wenn sie von sich aus signalisiert, dass sie das auch will.
Hunde orientieren sich immer an ihren Menschen und reagieren auf deren Verhalten. Sie spiegeln nicht nur unser Auftreten, sondern auch unsere unbewussten Denk- und Gefühlsmuster. Wiederholt erinnere ich meine Kunden daran, dass Gefühle hochgradig ansteckend sind. Ich fühle, was Du fühlst. Wenn wir wollen, dass sich unser Gegenüber wohl fühlt, wäre es somit sehr wirkungsvoll, sich selbst wohl zu fühlen.
Erfahre im Buch von Radana Kuny alles darüber, wie man zum Rudelführer wird, modern erzieht und jeden Hund für sich gewinnt:

Follow me – Das Leadership-Praxisbuch für Rudelführer
Radana Kuny
Minerva Verlag, Mönchengladbach
Format 17 x 24 cm
ISBN 978-3-910503-02-1